Am 25. März 1941 wurde ich in der mecklenburgischen Hafen- und Hansestadt Wismar geboren. Mein Vater war dort Oberbürgermeister, kam aber ursprünglich aus Westfalen. Bereits im Mittelalter sind viele Westfalen nach Mecklenburg gegangen, diese beiden Länder haben eine gemeinsame Tradition. In Westfalen herrschte das Erbrecht Primogenitur, also nur der erstgeborene Sohn erbte den Hof, die leer ausgehenden Bauernsöhne siedelten sich deshalb oft in Mecklenburg an. Manche sagten, Mecklenburger und Westfalen passten gut zusammen. Aber meine Frau war der Ansicht, das wäre die schrecklichste aller Verbindungen, nämlich die von zwei dickköpfigen Völkern.
Meine Mutter kam aus einer alten mecklenburgischen Familie. Sie war Lehrerin und gar nicht dickköpfig. Sie war eher die moralische Autorität in unserer Familie. Mein Vater dagegen wusste immer, was er wollte, und hat das in der Regel auch durchgesetzt.
An meine Heimatstadt Wismar habe ich nur noch wenige eigene Erinnerungen. Ich lebte dort während der Kriegszeit und war 1945 erst vier Jahre alt. So beziehen sich auch meine ersten Erinnerungen auf den Krieg. Ich erinnere mich, wie wir im Luftschutzkeller saßen, als eine Bombe auf unser Haus fiel. Das ganze Haus wackelte und der Dachstuhl brannte. Aber ich habe das als ungeheuer spannend empfunden - einfach, weil ich da abends nicht ins Bett musste.
Ich war aber auch fasziniert vom Wismarer Hafen, von den Fischern und den vielen Booten. Mein Vater nahm mich oft mit auf seine Reisen in die Umgebung.
Besondere Erinnerungen habe ich auch an unser gutes Familienleben. Wir sind eine Familie, die immer eng zusammenhielt, das ist auch heute noch so. Dafür sorgte vor allen Dingen meine Mutter. Sie war der ruhende Pol und - wie schon gesagt - die moralische Instanz der Familie. Ich erinnere mich noch an schöne Familienfeiern in Wismar, besonders zu Weihnachten, oder an gemeinsame Ausflüge. Aber was mich vor allem mit Wismar verbindet, sind natürlich die Erzählungen meiner Eltern und die meiner älteren Geschwister. Wir waren vier Kinder, ich war der Jüngste, sehr viel jünger als meine Geschwister. Ich sage immer: "Mit mir hatte keiner mehr gerechnet".
Erzogen hat uns praktisch meine Mutter. Sie war christlich geprägt, mein Vater nicht. Durch meinen Vater wurde ich sehr liberal erzogen. Meine Mutter vermittelte mir die Werte: Man darf nicht lügen, man muss anständig bleiben, man muss sich morgens beim Zähneputzen im Spiegel ansehen können, ohne rot zu werden. Meine Eltern haben versucht, unsere Begabung zu fördern und unsere Ungezogenheiten zu ertragen, solange es ging, oder uns zu verändern. Und das hat, so glaube ich, die Entwicklung von uns Kindern besonders gefördert. Meine Eltern haben mir z. B. niemals vorgeschrieben, was ich zu machen hätte. Ich konnte selbstständig meine intellektuellen Interessen entwickeln. Mein Vater hat mir gesagt: "Du musst das studieren, was Dir Spaß macht, denn Du wirst nur dann im Leben Erfolg haben, wenn Du das tust, was Dir aus dem Herzen kommt und was Du aus innerer Überzeugung tust. Nur dann ist man wirklich gut." Mit dieser Erziehung habe ich als Kind sehr gut leben können. Dieselben Werte von Toleranz und Unvoreingenommenheit habe ich meinen Kindern weitervermittelt.
Alle in unserer Familie hatten eine sehr starke emotionale Bindung an die Stadt Wismar - das ist bis heute so geblieben. Meine Eltern sind schon lange tot, mein ältester Bruder ist inzwischen auch verstorben, aber immer noch feiern wir große Familienfeste in Wismar. Diese Liebe zu meiner Heimatstadt führte z. B. dazu, dass ich mich 1955 - als Vierzehnjähriger und in der Zeit des sogenannten Chrustschow-Kommunismus - mit dem Fahrrad von Westfalen aus auf den Weg nach Wismar machte. Bei Lauenburg überschritt ich die Grenze zur DDR. Die Grenzer waren sehr freundlich zu mir Schuljungen, der alle erforderlichen Einreisepapiere vorzeigen konnte. Ich war wohl ein seltener Fall. Natürlich hatte ich die Satteltasche voller Schokolade und anderen Dingen, die es in der DDR nicht gab. Ich besuchte meine Verwandtschaft in Wismar und mein früheres Kindermädchen in Schwerin. Dieses Kindermädchen war eine junge Mecklenburgerin, die mich schrecklich verwöhnte, was mir immer sehr gut gefiel. Bis zu ihrem Tod haben meine Eltern, meine Geschwister und ich zu ihr eine gute Verbindung gehabt, sie gehörte praktisch zur Familie. Und in Wismar hatten wir zu dieser Zeit noch Verwandte, die mir die Stadt zeigten und etwas aus der Familiengeschichte erzählten. Das hat natürlich die emotionale Bindung an diese Stadt noch verstärkt.
Nach der politischen Wende 1990, nach den ersten demokratischen Wahlen in der DDR im Frühjahr 1991 - ich war noch dienstlich in Washington gebunden - machte ich mich zusammen mit meiner Frau auf den Weg in die DDR. Ich wollte dieses Land noch einmal sehen, bevor es nicht mehr existierte. Es war ja eine historische Entwicklung im Gange, deren Anfang ich miterleben wollte. Mir war klar, dass sich alles in ein paar Jahren verändert haben würde. Damals fanden wir in Wismar kein Hotel, sondern wohnten privat bei Leuten, schliefen in ihrem Kinderzimmer. Und das wurde unser regelmäßiger Aufenthaltsort. Auch in Schwerin, in Ostberlin, in Leipzig, in Dresden, in Weimar waren wir, fuhren 14 Tage lang durch die DDR. Was mich damals ungeheuer beeindruckte, war auf der einen Seite der schlechte Zustand der Städte und Dörfer und der Mangel an Lebensqualität. Aber die stärksten Eindrücke blieben, wenn wir morgens in der Küche unserer Gastgeber saßen und sie uns erzählten, was sie in den letzten 20/30 Jahren in der DDR erlebt hatten, welche Erfahrungen sie jetzt machten, welche Erwartungen und Hoffnungen sie hatten. Wir erlebten eine starke Aufbruchsstimmung und große Freude, die man heute gar nicht mehr nachvollziehen kann. Jetzt sind wir wieder in der Normalität angekommen, wo alles sich beklagt.
Als ich noch als Staatssekretär im Auswärtigen Amt war, konnte ich meine Liebe zu Wismar einmal ganz praktisch umsetzen. Damals habe ich mit der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes der Stadt Wismar bei der Antragsstellung geholfen, damit die alte Hanse-Stadt Wismar zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt würde. Das geschah am 27. Juni 2002. Der Antrag hatte Erfolg, nicht weil ich daran beteiligt war, sondern weil es in Wismar eine wunderbare Bürgermeisterin gab, die Frau Rosemarie Wilcken. Sie ist in ganz Norddeutschland bekannt, war 20 Jahre lang - seit der politischen Wende 1989 - Bürgermeisterin in Wismar und besaß eine unglaubliche Energie. Mit der richtigen Mischung aus Charme und Penetranz hat sie die Stadt vorangebracht. Ihr Motto habe ich mir gemerkt. Als es hier um den weiteren Ausbau der Universität ging und es manchmal Schwierigkeiten in den unterschiedlichen polnischen und deutschen Rechtsbereichen gab, da habe ich immer wie Frau Wilcken gesagt: "Fangen wir doch erst mal an."
1945 - aber erst nach dem Kriegsende - haben wir Wismar verlassen. Obwohl die Stadt bis zuletzt, bis zur Besetzung durch die Alliierten noch verteidigt werden sollte, ist mein Vater als Oberbürgermeister der Stadt mit einer weißen Fahne den Engländern entgegen gegangen und hat so die Stadt vor der Zerstörung gerettet. Wenn da irgendwo ein Schuss gefallen wäre, hätten die Engländer die Stadt bombardiert. Das war das übliche Verfahren. Die Engländer setzten meinen Vater mit einer weißen Fahne in der Hand vorne auf die Motorhaube eines Jeeps und fuhren so langsam in die Stadt hinein. Es fiel zum Glück kein einziger Schuss. Darauf haben die Engländer meinen Vater für drei Tage eingesperrt, ihn dann jedoch freigelassen. Er musste weiter als Oberbürgermeister im Amt bleiben und sogar den Umkreis mitverwalten. Nach drei Monaten zogen aber die Engländer laut Beschluss in Jalta aus Wismar und Mecklenburg ab, sowie auch die Amerikaner aus Thüringen. Als das passierte, hat meine Mutter dafür gesorgt, dass wir auf einem Lastwagen hinter den Engländern her aus der Stadt herausfahren konnten.
Mein Bruder war damals im Lazarett. Sieben Tage nach dem Abitur wurde er noch als Soldat eingezogen. Doch der Krieg war für ihn schnell zu Ende, als ihn in Russland ein Granatsplitter in die Hand traf. Eine ältere Schwester war in Bochum beim Roten Kreuz gelandet. Zu Hause waren noch meine Mutter und meine sieben Jahre ältere Schwester.
Und so sind wir - meine Mutter mit uns zwei Kindern zusammen mit unserem mecklenburgischen Kindermädchen - zunächst nach Meldorf in Schleswig-Holstein gekommen. Mein Kindermädchen ist aber bald wieder nach Mecklenburg zurückgegangen und hat dort einen Bauingenieur geheiratet. Später zogen wir zu Verwandten nach Westfalen.
Meine Schulzeit
Ich besuchte zuerst die Volksschule in Kierspe, dann das Zeppelin-Gymnasium in Lüdenscheid. Der Ort ist später durch das Buch "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" berühmt geworden.
Nach Lüdenscheid bin ich jeden Tag mit dem Zug gefahren. Dort war ein wunderbares neusprachlich-naturwissenschaftliches Gymnasium - ein 500 Jahre altes evangelisches Stift. Ich wählte den halb-altsprachlichen Zweig, wo ich neun Jahre Latein, sieben Jahre Englisch und sechs Jahre Französisch lernte. Die Naturwissenschaften interessierten mich weniger. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte. Sehr aktiv betätigte ich mich in einer Arbeitsgemeinschaft über Politik und Geschichte. In der Oberstufe bestand unsere Klasse nur aus 16 Schülern. Wir hatten einen Klassenlehrer, der nicht nur Französisch lehrte, sondern auch Philosophie. Er gab auch Religionsunterricht, der vor allem religionsgeschichtlich und philosophisch geprägt war. Diese Schule hat uns nicht nur Wissen vermittelt, die Pädagogen dort waren ebenso an der charakterlichen und geistigen Entwicklung jedes einzelnen Schülers interessiert. Wir fühlten uns hervorragend betreut und zugleich herausgefordert. Ich war dort sehr gern und habe an diese Jahre im Gymnasium in Lüdenscheid nur gute Erinnerungen.
Nicht so gut ist die Erinnerung an das zeitige Aufstehen. Es gab dort am Gymnasium kein Internat. Ich musste jeden Morgen um 5.15 Uhr aufstehen, denn um 6.28 Uhr fuhr mein Zug nach Lüdenscheid. Es waren zwar nur zwölf Kilometer, aber eine sehr steile Strecke bis nach Lüdenscheid und in Brügge musste ich noch umsteigen. Dazu brauchte der Zug fast eine Stunde. Die alte Dampflock schaffte es einfach nicht schneller. Auch wurden die Schüler in die letzten beiden Wagen gepfercht, das waren eigentlich Viehtransportwagen. Im Laufe der Zeit verbesserte sich die Verbindung, aber an das frühe Aufstehen habe ich mich nie gewöhnen können. Das liegt mir bis heute nicht.
In unserem Gymnasium stand vor allem die Aufarbeitung der neuesten Geschichte im Mittelpunkt. Deutschland war in den 1950er Jahren noch stark zerstört. Das Leben war grau, die Ernährung schlecht. Damals war die Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte nicht sehr populär. Es war eher die Zeit der Verdrängung. Die Leute waren alle noch traumatisiert durch die furchtbare Geschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges. Die eigentliche wirtschaftliche Erholung kam praktisch erst nach dem Zusammenschluss der Europäischen Gemeinschaften Ende der 1950er Jahre. Da ging das Leben plötzlich wieder aufwärts. Heute spricht man vom Wirtschaftswunder. Aber auch da gab es eine gewisse Verdrängung, weil die Menschen zuerst nur das normale und schöne Leben suchten und das genießen wollten. Die eigentliche Aufarbeitung der Geschichte kam erst Mitte der 1960er Jahre, hochgepuscht durch die 68-Generation, die "wilden 60er". Wir aber hatten in unserem Gymnasium hervorragende Lehrer, die uns umfassend vor allem an die jüngere Geschichte von der Gründung des Deutschen Reiches bis 1945 heranführten. Wir hatten einen wunderbaren Geschichtsunterricht. Das hat mich stark geprägt und auch sehr schnell für Politik interessiert. Wir haben damals gelernt, dass Deutschland in den letzten hundert Jahren - seit der Aufklärung - eine unfassbare Entwicklung genommen hatte, von einem gebildeten Kulturvolk hin zu dem dreimaligen totalen Versagen der politischen Eliten. Wenn Kaiser Wilhelm II. und seine Regierung nicht versagt hätten, wäre Europa wohl nicht derart durch den unsinnigen Ersten Weltkrieg zerstört worden. Dann wäre wohl auch Hitler nicht an die Macht gekommen. Ebenso schwer wog das Versagen der bürgerlichen Elite in der Weimarer Republik, trotz der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, trotz des Scheiterns der Aristokratie und trotz der an sich guten, demokratischen Weimarer Verfassung. Das Hitlerregime war die Herrschaft des Kleinbürgertums. Das Schlimmste daran war die Zerstörung des Rechtsstaates und der Demokratie. Diese geschichtlichen Zusammenhänge wurden uns durch hervorragende Pädagogen in unserer Schule ausführlich erläutert. Wir betrieben Ursachenforschung. Für uns junge Menschen, die wir doch die Welt verbessern wollten, war das ein Schock. Wir begriffen den grauenvollen Zivilisationsbruch. Das Schlimmste, das einer Gesellschaft passieren kann, ist der Verfall ins Unrecht. Das brachte mich dazu, Jura zu studieren. In unserer Familie gibt es eigentlich mehr Künstler und Ärzte. Aber auch auf meine Schwester, die im Nachbarort zur Mädchenschule ging, hatte das eine ähnliche Wirkung. Auch sie studierte Jura.
Studienjahre
1960 begann ich mein Jura-Studium in Köln. Die 500 Jahre alte Albertus-Magnus-Universität war eine Massenuniversität geworden. Wir waren über 30.000 Studenten. Das Hauptgebäude der Universität war ein hässlicher Hochhausbau - Köln war ja im Krieg fast völlig zerstört worden. Beispielsweise machte ich im 2. Semester den kleinen Schein des Bürgerlichen Rechts in einer Viehversteigerungshalle, zusammen mit tausend Kommilitonen. Es war auch noch die alte Ordinarienuniversität - eine gute Universität, wo es hervorragende Professoren gab, aber sie waren kleine Götter und es war schwer, zu ihnen Zugang zu bekommen. An dieser Universität war kein Platz zum Wohlfühlen oder um Freundschaften zu schließen. Die Fakultäten waren zu groß, um die Kommilitonen kennen zu lernen.
Trotzdem nutzte ich die ersten beiden Semester zum Feiern, lebte meine neue Freiheit aus und absolvierte nur das unbedingt Notwendige. Aber ich blieb in der Norm und machte termingerecht die erforderlichen Scheine. Weil ich ein gutes Abiturzeugnis hatte, erhielt ich für zwei Semester einen Studiengebührenerlass und einen studentischen Freitisch in der Mensa.
Es gab eine große Anzahl studentischer Verbindungen. Ich trat einer Verbindung bei, die liberal geprägt war. Ihr gehörten sympathische Menschen an, vor allem Juristen, Betriebs- und Volkswirtschaftler. Diese studentische Verbindung war bereits 1901 an der alten Handelshochschule gegründet worden. Mindestens einmal in der Woche gab es einen Vortragsabend mit anschließender Diskussion. Wir besuchten auch alle gemeinsam das Studium Generale. Das gefiel mir gut. Ich war der Jüngste, wurde aber "Senior" der Verbindung. Dort lernte ich es, Menschen zu begeistern und mich in der Gruppe durchzusetzen. Es gab eine gewisse Leistungsorientierung, ein gewisser "peer pressure" entwickelte sich. Man flog raus, wenn man nicht innerhalb der Mindestzeit plus zwei Semester seine Prüfungen ablegte. Mit Unterstützung einer Altherrenschaft konnten wir auch reisen, z. B. nach Paris und Berlin, und Kontakte zu ausländischen Studenten pflegen. Natürlich war es auch eine "schlagende Verbindung", da musste man fechten. Das war für mich eine Beigabe, ich sah das als Abenteuer an. In dieser Zeit entwickelten sich Freundschaften, die sich bis heute gehalten haben.
Nach dem vierten Semester wechselte ich nach Bonn. Dort gab es den besten und berühmtesten Repetitor, der die jungen Leute auf das Staatsexamen vorbereitete. Die Repetitorien hatten nichts mit der Universität zu tun, denn das erste Staatsexamen musste am Oberlandesgericht und das zweite am Justizministerium abgelegt werden. Ein Universitätsrepetitorium, wie wir es heute haben, das gab es damals nicht, auch keine Tutoren. Das übernahmen damals in der Regel private Rechtsanwälte.
In Bonn betreute der Rechtsanwalt Dr. jur. Paul Schneider ganze Generationen von Studenten. Sie nannten sich alle "Schneiderianer." Er prägte seine Studenten auch durch seinen Humor und seine speziellen Ausdrücke, die von den Studenten oft übernommen wurden. Mitten in New York am Grand Central, wo Massen von Menschen vorbeiströmten, hörte ich, wie zwei Herren von "Amok" sprachen. Diesen Ausdruck benutzte Schneider oft, wenn er etwas als unsinnig bezeichnete. Ich drehte mich um und fragte: "Hallo meine Herren, waren Sie bei Schneider?" Sie bejahten.
Dr. Schneider hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Als ich mich bei ihm bewarb, erinnerte er sich an den Vornamen meiner Schwester, die sechs Jahre vor mir sein Repetitorium besucht hatte.
Er hatte ein spezielles System und versprach, wenn ein Student das beherrsche, was er im Repetitorium anbot, garantiere er ein Prädikatsexamen. Bei ihm musste man jedoch regelmäßig erscheinen. War das nicht der Fall, fehlte man mehr als dreimal, schrieb er an die Eltern. Von sieben bis neun Uhr übte er mit uns Klausuren ein. In zwei Stunden schrieben wir bei ihm Probe-Klausuren, die in Wirklichkeit vier bis sechs Stunden dauerten. Essentielle Dinge, die unbedingt zum Studium gehörten und besonders schwierig waren, musste man bei Schneider zweimal hören. Sehr hilfreich war auch sein knapp gehaltenes Skriptum des gesamten Examensstoffes, das jedoch nur verständlich war, wenn man an seinem Repetitorium teilgenommen hatte. Jeder Student musste nach dem Examen für den Repetitor einen Bericht schreiben und so kannte Dr. Schneider die Eigenheiten jedes Prüfers, von jeder Prüfung besaß er ein Protokoll. Das gab er an seine Studenten vor dem Examen weiter. Dadurch erfuhr man als Examenskandidat viel über die Persönlichkeiten der Prüfer und wusste, welche Fragen üblicherweise gestellt wurden. Dieses Material lieferte nur Schneider. Hinzu kam, dass seine Seminare billig waren, denn 350 Studenten saßen regelmäßig bei ihm im Repetitorium. Ich war täglich vier Stunden da und bezahlte monatlich nur 35 Mark.
Inzwischen gibt es zwei Bücher über ihn, die von seinen Eigenheiten erzählen. Als er starb, wurde er im Bonner Münster aufgebahrt. Die Kirche war voll. Leute aus aller Welt nahmen an der Trauerfeier teil. Nach der Feier standen viele Gruppen draußen vor dem Münster und erzählten sich lustige Geschichten von Schneider. Es wurde laut und herzlich gelacht. Das war anrührend. Schneider hätte das bestimmt gefallen.
Nach dem Examen beim Oberlandesgericht in Köln absolvierte ich dort auch meine Zeit als Referendar. Daneben arbeitete ich bei einem Anwalt und schrieb meine Dissertation. Es war eine harte Zeit. Ich erhielt wenig Geld, etwa monatlich nur 280 Mark. Davon konnte ich nicht einmal die Miete bezahlen. 1966 bewarb ich mich für ein DAAD-Stipendium an der École Nationale d'Administration, der ÉNA, in Paris. Davon hatte ich ganz einfach durch ein Plakat erfahren. Die ÉNA war eine Schule der Resistance und die Eliteschule für die Ausbildung hoher französischer Staatsbeamter. Als 1963 der Élysée-Vertrag geschlossen wurde, diskutierte man sehr unterschiedlich darüber, ob eine deutsche Gruppe an dieser sehr angesehenen Schule aufgenommen werden solle. Bis 1965 hielten diese Diskussionen an. Ich gehörte zur zweiten deutschen Gruppe und wir wurden sehr offen aufgenommen. Es wurden die spannendsten Studienjahre meines Lebens. Alles, was an dieser Schule gelehrt wurde, setzte entsprechendes Wissen voraus, es ist eine Wissensanwendungsschule. Dazu hatten wir einen intensiven Einführungslehrgang, natürlich auf Französisch, in dem uns ein großer Einblick in das politische Denken und in die zentrale Verwaltungsstruktur Frankreichs vermittelt wurde. Der Vergleich zu deutschen föderalen Strukturen war äußerst interessant. Aber immer, wenn ich in Deutschland war, wünschte ich mir zentralere Strukturen, war ich dagegen in Frankreich, schätzte ich den deutschen Föderalismus. Gleich zu Beginn meines Studiums erhielt ich die Aufgabe, ein schwieriges Exposé über bestimmte Mängel des französischen Bankensystems anzufertigen. Davon hatte ich als Jurist keine Ahnung. Aber die ÉNA lag gegenüber der Bibliothek der "Science Po", die uns zur Verfügung stand. Da ging ich vormittags hin und bereits am Nachmittag überreichte man mir eine große Menge Material, mit dem ich arbeiten konnte. Selbst vertrauliche Regierungs-Materialien wurden ÉNA-Studenten zur Verfügung gestellt. Auch von Seiten der deutschen Botschaft, die uns betreute, wurde mir geholfen. In dieser Zeit lernte ich die Technik zur Erarbeitung eines Exposés, ausgerichtet auf die Arbeit mit Politikern. Es gab die klare Zeitvorgabe von zehn Minuten, denn kein Minister hört länger zu. Auch musste es immer die gleiche Form haben: Einführung, These, Antithese, Konklusion. So war man gezwungen, ein komplexes Problem mit großer Disziplin unter Zeitvorgabe zu erarbeiten und auf zwei Entscheidungsalternativen zu reduzieren. Das war eine überaus gute Schulung, die mich auf den Gedanken brachte, in den Auswärtigen Dienst zu gehen.
Wir mussten dann noch vier Monate lang in der Präfektur eines Départements den stage de préfecture absolvieren. Ich erhielt eine Stelle in Perpignan im Département Pyrénées-Orientales. Das war eine himmlisch schöne Gegend. Im Oktober konnte man dort früh im Mittelmeer schwimmen und nachmittags in den Bergen Ski fahren. Die Arbeit in der Präfektur war sehr interessant. Im Languedoc-Roussillon wurde seinerzeit die Küste für den Tourismus erschlossen. 150 Millionen Francs wurden investiert. Man konnte viel reisen, sich alles ansehen und sich in den Städten und Gemeinden ausführlich informieren. Obwohl die Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges im Südwesten Frankreichs der Bevölkerung viel Leid gebracht hatten, wurde ich überall freundschaftlich aufgenommen.
In dieser Zeit erlebte ich Charles de Gaulle hautnah. Er war eine Persönlichkeit mit einer großen Ausstrahlung, so wie ich sie nie wieder erlebt habe. Ich erinnere mich an eine unvergessliche Szene. Als Präsident der französischen Republik hatte er Andorra besucht und auf dem Rückweg schaute er sich dieses große touristische Projekt an. In dieser Gegend gab es viele, einstmals durch den Krieg und die Deutschen zerstörte arme Dörfer, die jetzt durch einen Resistance-Politiker Aufschwung erfahren hatten. Ein solches, wohlhabend gewordenes Dorf besuchte de Gaulle. Der Bürgermeister war ein Kommunist, wie alle Leute dort. De Gaulle sollte eine Erinnerungstafel einweihen. Die Bevölkerung zeigte ihm gegenüber zunächst starke Ablehnung, mit eisigem Schweigen wurde er empfangen. Aber mit wenigen Worten des Respekts für den Bürgermeister und ehemaligen Mitarbeiter in der "Resistance", der französischen Widerstandsbewegung, gelang es ihm, die Stimmung zu wenden und auf beeindruckende Art entspannte sich die Atmosphäre. Ich hatte zu der Zeit bereits Familie und ein vierjähriges Kind. Als ich in Paris war, blieb meine Frau in Köln. Wir besuchten uns aber regelmäßig gegenseitig, abwechselnd in Paris und Köln. In die Pyrenäen kam meine Frau mit.
Dienstbeginn im Auswärtigen Amt
Nach meinem Aufenthalt in Frankreich ging ich zunächst wieder nach Köln zurück und bewarb mich nach dem zweiten Staatsexamen beim Auswärtigen Amt. Das war 1969. In dem Auswahlverfahren, das aus mehreren Prüfungen bestand, hatte ich Glück. Geprüft wurden Motivation, Sozial- und Führungskompetenz, Teamfähigkeit, Rhetorik, Sprachkenntnisse und Fächerkompetenzen, wie Geschichte, Politik, Völkerrecht. Da kamen die Hobbies meiner Schulzeit, die Philosophie - auch meine Promotion hatte ein staatsphilosophisches Thema - ganz gut an. Ich wurde angenommen. Nach diesem Auswahlverfahren wurde ich zur Ausbildung für den diplomatischen Dienst als Beamter auf Widerruf für achtzehn Monate eingestellt.
Die Ausbildung enthielt neben der fachlichen Vorbereitung intensiven Fremdsprachenunterricht: Englisch, Französisch und ggf. noch eine dritte Sprache. Für schwere Sprachen gab es einen Vorbereitungskurs, wo man nach Abschluss der Prüfung direkt im Land weiteren Sprachunterricht erhielt.
Für acht Monate ging man auf einen Auslandsposten. Da bekam man volles Auslandsgehalt, sonst hätte ich in Bonn nur ein Referendargehalt erhalten. Das freute mich natürlich, weniger erfreut war ich aber über meine Stelle am Generalkonsulat in Liverpool. Ich wäre gern nach Boston gegangen, um noch weiter in Harvard zu studieren, aber das klappte nicht. Ausschlaggebend war, dass mein Englisch nicht so gut wie mein Französisch war.
Zuerst empfand ich die Versetzung nach Liverpool als Strafposten, aber dann gefiel es mir dort besonders gut. Nach den acht Monaten wollte ich nicht wieder weg. Liverpool war kulturell nach London die zweitinteressanteste Stadt in England. Ich bin im ganzen Norden Englands und auch in den Bürgerkriegswirren Nordirlands unterwegs gewesen, das war auch politisch unglaublich spannend. Als einziger Volljurist an der Botschaft konnte ich vieles frei gestalten. Mein Chef, der Generalkonsul, war Japanologe und lebte nur physisch in Liverpool. Das alles zeigte mir, dass es generell keine schlechten Posten gibt. Wichtig ist immer, was man daraus macht. Meine Tochter besuchte dort in Liverpool den Kindergarten und lernte diesen furchtbaren Liverpooler Slang, den "scouse". Als wir aber dann nach New York kamen und sie so dort sprach, meinte ihre Kindergärtnerin: "What a wonderful continental accent!"
Bei der UNO in New York
Als ich die anderthalb Jahre Diplomatenausbildung hinter mich gebracht hatte, konnte ich mich für verschiedene Stellen im Auswärtigen Dienst bewerben. Man durfte Wünsche äußern. Alle suchten sich weltweit die entferntesten Posten aus, alle wollten Abenteuer erleben. Ich legte acht Wünsche vor: von der Mongolei bis Südamerika. Mein achter Wunsch ging in Erfüllung: die USA. Aber es war kein Konsulat, sondern eine Stelle bei der UNO-Vertretung in New York. Ich wurde wieder von meinen Kollegen verlacht, war der "Pflastertreter" in Manhattan. Das war 1970 und bis 1974 blieb ich auf diesem ersten Posten.
Ich war dort bei der UNO die Nummer "sieben", einschließlich Botschafter bestand die ganze Vertretung aus sechs Personen. Deutschland hatte bei der UNO damals nur eine Beobachtermission, angehängt an das Generalkonsulat. Unser Büro befand sich im 56. Stock des Chrysler Buildings, eines der schönsten Jugendstilgebäude in Manhattan. In den ersten zwei Wochen schaute ich nur aus dem Fenster, mein Blick ging über ganz Süd-Manhattan. Aber mein Zimmer war so klein, dass ich die Bürotür nicht mehr öffnen konnte, wenn ich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch saß.
Die multilaterale Arbeit bei der UNO faszinierte mich sofort. Ich fand sie ungeheuer spannend und kam davon mein ganzes Leben lang nicht mehr los. Diese erste Stelle bestimmte fortan meine Arbeit. Es gibt zwei Arten von Diplomatie: die bilaterale und die multilaterale. Dazwischen liegt ein gewaltiger Unterschied. Bei der normalen bilateralen Diplomatie gehe ich als Diplomat mit einem Problem zur Gastregierung und versuche, eine Lösung zu finden. Das muss in der Regel ein Kompromiss oder ein Deal sein, mit dem beide zufrieden sind und sich als Sieger fühlen. Beide sind ja völlig unabhängig voneinander und niemand kann zu seiner Regierung kommen und sagen, der andere hat gewonnen. Das wiederum setzt vor allem Vertrauen voraus, das sowieso eine Grundlage aller Diplomatie ist. Der Spruch: "Diplomaten werden dafür bezahlt, dass sie für ihr Vaterland lügen" ist selbst eine Lüge. Ich habe nie während meiner 38jährigen Dienstzeit einen Kollegen belogen, nicht weil ich ein so guter Mann bin, sondern weil es Dummheit und vollkommen unprofessionell gewesen wäre. Wenn man wegen eines kurzfristigen Vorteils das Vertrauen verspielt, wird man nie wieder etwas Gemeinsames erarbeiten können.
Multilaterale Arbeit ist anders. In Konferenzen wird durch Mehrheitsbeschlüsse entschieden. Wer die meisten Stimmen erhält, kann seine Vorschläge, seine Initiativen erfolgreich durchbringen. Meine Aufgabe war es, solche Abstimmungen vorzubereiten. Die absolute Mehrheit bei der UNO sind 97 Stimmen, die zwei-Drittel-Mehrheit erfordert 128 Stimmen. Da geht es um Sieg, nicht um Kompromisse.
Dazu gibt es das normale Rüstzeug der Diplomatie: die Verhandlungen, wo man überzeugt oder Deals macht, um eine Mehrheit der Stimmen einzuwerben. Aber wenn schnell abgestimmt werden soll, muss man andere manchmal in zehn Minuten dazu bringen, dafür zu stimmen oder Leute aus anderen Ausschüssen herbei zu holen, die darauf vertrauen müssen, nicht enttäuscht zu werden, sonst ist alle zukünftige Arbeit gefährdet. Das funktioniert in der Regel auf "First-name-basis": "Peter, here, please vote yes!" und erfordert eine gewisse Extrovertiertheit, persönliche Integrität, aber auch umfangreiche Kenntnisse. Man muss auch Spaß daran haben. Ist man in der Mehrheit, sorgt man dafür, dass sofort abgestimmt wird. Ist man in der Minderheit, wird man dagegen die Abstimmung hinaus zögern, um Zeit und Stimmen zu gewinnen. Auch sind die Diplomaten eine verschworene Gemeinschaft. Irgendwo und irgendwann in der Welt trifft man wieder auf Menschen dieser Gruppe. Wurde das Vertrauen einmal verspielt, rächt sich das für lange Zeit und behindert die Arbeit.
Die Gruppe der Multilateralen ist in allen Außenministerien klein, denn diese Arbeit kostet Zeit und setzt viel Wissen voraus. Die Kenntnisse des Ablaufs und der Technik muss man lernen, diese Stärken muss man entwickeln. Da muss man sich zuerst die Akten zuvor gelaufener Verhandlungen anschauen, die Abstimmungen und Diskussionen verfolgen, man sollte auch die Diplomaten und Gruppierungen kennen. Wichtig sind auch die Akten des Vorgängers, man muss die bisherigen Tagesordnungspunkte und Aktionen kennen. Auf Versammlungen ist es ist wichtig, sich die zusammenstehenden Gruppen anzuschauen: wer in der Mitte der Gruppe steht und redet, wer die größte Gruppe um sich schart. Das sind in der Regel die entscheidenden Leute, mit denen man sich beschäftigen sollte. Hat man die überzeugt, schließt sich im Allgemeinen die gesamte Gruppe an. Diese Mechanismen muss man kennen. In meinem damaligen Ausschuss war das eine Botschaftsrätin, eine junge 30jährige Frau, die alles wusste und niemand traute sich, ohne ihre Zustimmung etwas zu unternehmen. Sie hatte in dem Ausschuss mehr Einfluss als der Botschafter.
Aber man muss auch wissen, welche Tricks allgemein angewandt werden, sonst wird man überrumpelt. Bei meiner Einführung durch einen Kollegen erlebte ich Folgendes: Als wir vor einer Sitzung des Menschrechtsausschusses unterwegs waren - es war ja zur Zeit des Kalten Krieges - kam plötzlich der russische Delegierte auf uns zu. "Was habt Ihr vor?" Mein Kollege antwortete: "Wir machen gar nichts, wir sind doch nicht einmal Mitglied dieses Ausschusses, sondern nur Beobachter. Was können wir schon gegen die große Sowjetunion unternehmen?" Der Russe schlug vor: "Machen wir einen Deal, wir machen nichts gegen euch und ihr nichts gegen uns." Damit waren beide einverstanden. Mein Kollege schlussfolgerte jedoch daraus: "Die Russen haben keine Weisungen, sie können deshalb momentan nicht die Vertreter der sozialistischen Staaten zusammenrufen und ihnen sagen, wie sie abstimmen sollen. Das ist die Gelegenheit, die geplante Resolution durch eine schnelle Abstimmung zu gewinnen." Er ging sofort zu den Amerikanern und schlug die schnelle Abstimmung vor, denn jede Minute der Hinauszögerung würde nur den Gegnern helfen. Das passierte auch, die Russen verloren. Darauf kam der Russe wütend auf meinen Kollegen zu. "Hatten wir nicht einen Deal gemacht? Du bist ein Charakterschwein!" Mein Kollege antwortete ihm: "Ich kann sehr gut deinen Ärger verstehen, es ist wirklich nicht gut gelaufen. Aber du hast doch gesehen, dass ich unmittelbar nach unserem Deal zu den Amerikanern gegangen bin und versucht habe, sie davon abzuhalten." Solche Sachen sollte man eigentlich nicht machen. Es gibt auch einige Tricks, mit denen man eine Abstimmung hinauszuzögern kann. Da werden Delegierte persönlich angegriffen oder falsch zitiert, sodass sie ärgerlich werden. Ein anderer beantragt dann die Vertagung der Sitzung. Dazu braucht man die Unterstützung von Kollegen. Das sind Beispiele, wie man mit verschiedenen Methoden arbeiten kann. Die Mechanismen sind in jedem Ausschuss verschieden. Ungefähr ein Jahr braucht man, um das alles zu lernen.
Sicher ist man als Diplomat von der Zentrale, vom Außenministerium, abhängig und bei bilateralen Botschaften stark an die Weisungen gebunden. Es kommt auch darauf an, in welchem Land man eingesetzt ist. Ist man als Diplomat weiter weg, in einem fernen Land, wo die politische Schwerkraft der eigenen Regierung nicht hinreicht, hat man mehr Freiheiten. Die größte Freiheit hat man im multilateralen Bereich. Das Wissen um den Stand der sich manchmal sehr schnell entwickelnden Verhandlungen haben dann nur die Diplomaten, die in den Konferenzen anwesend sind. Wenn da eine prozedurale Entscheidung beantragt wird, muss man sofort entscheiden, da kann man nicht erst zu Hause anfragen. Als ich später als Botschafter bei der UNO in New York war, hatte ich große Freiheiten. Etwa 95 % aller Entscheidungen habe ich selbst getroffen. Das lag auch daran, dass ich das Vertrauen des Ministers hatte.
Als ich von 1970 bis 1974 das erste Mal bei der UNO arbeitete war das die spannende Zeit des Übergangs von einem westdeutschen Beobachter über zwei deutsche Beobachter bis zur Mitgliedschaft beider deutscher Staaten in der UNO im Jahr 1973. Das hing vom Grundlagenvertag ab, der 1972 von Egon Bahr und in Ost-Berlin von Michael Kohl unterzeichnet wurde. Unter Bundeskanzler Willy Brandt wurde dadurch eine Kehrtwende von der Hallstein-Doktrin zur deutschen Politik des "Wandels durch Annäherung" eingeläutet. Das war extrem spannend. Der DDR ging es ja um die internationale Anerkennung - möglichst ohne einen Preis zu bezahlen, wollte sie diese haben und nur damit konnte man die DDR ködern. Deshalb sagte Bahr zu uns: "Ihr müsst jetzt Hallstein-Doktrin betreiben." Das bedeutete Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR. Alle wussten, dass das keine Grundsatzpolitik mehr war, sondern nur Taktik. Darin lag die Schwierigkeit, und ich hatte die Aufgabe, diese Politik durchzusetzen.
Eine für mich schwierige Sache galt es z. B. auf der vierten Welthandelskonferenz in Santiago de Chile zu lösen. Da hatten sich die sozialistischen Staaten eine gemeinsame Resolution ihrer Staaten ausgedacht, an der auch die DDR beteiligt war. Das musste ich verhindern. Dabei passierte mir etwas absolut Kurioses. Ein Tscheche und ein Pole waren offensichtlich damit beauftragt, auf mich aufzupassen. Sie beobachteten alle meine Aktionen und Äußerungen. Aber stets endete der Streit in der Verhandlung mit einem Kompromiss, der protokolliert wurde. Als ich das Protokoll kontrollierte, las ich darin jedoch die deutsche Position als Kompromiss. Der des Englischen wohl nicht so mächtige Protokollant - ein Chilene - hatte es so hineingeschrieben. Das konnte nicht gut gehen und so versuchte ich einen Trick und verlangte mit lauter Stimme vom Protokollanten, das dürfe so nicht stehen bleiben. Das sei doch gar nicht der Kompromiss, den wir vereinbart hätten. Daraufhin setzten sich meine beiden Beobachter in Trab und riefen, ohne in das Protokoll zu schauen: "Das muss so stehen bleiben!" So siegte das Freund- Feind-Denken über ein korrektes Protokoll.
Solange wir in der UNO nur Beobachter waren, haben wir keine Abstimmung verloren, weil wir als Nichtmitglied nicht abstimmen durften und damit auch nie gegen ein Mitglied abstimmen konnten, alle waren unsere Freunde. Dann mussten wir uns für den Beitritt zur UNO vorbereiten, zu allen 132 Tagesordnungspunkten eine eigene deutsche Stellungnahme erarbeiten und das Abstimmungsverhalten vorbreiten. Jeder von uns hatte einen Ausschuss zu bearbeiten. Da konnte man wirklich Politik machen. Am 18. September 1973 kam Willy Brandt nach New York und sprach als erster deutscher Bundeskanzler vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York. Da habe ich einem Stück Geschichte beigewohnt. Ja, ich hatte immer - auch als kleiner Mann - das Glück, an Orten zu sein, wo es sehr spannend war.
Deutschland war damals sehr angesehen, wir waren Mitglied in allen Sonderorganisationen. Nach den USA und Japan waren wir der drittgrößte Ressourcengeber und Beitragszahler in der UNO. Da sollte für uns auch etwas herausspringen. Deshalb versuchten wir, Deutsch als Amtssprache durchzusetzen. Im Völkerbund war Deutsch bereits Amtssprache gewesen. Wir erkundigten uns an entsprechender Stelle und erfuhren, dass bei der UNO eine sechste Leitung frei stand. Das alles in Gang zu bringen, hätte pro Jahr etwa eine Million Dollar gekostet, die aber wahrscheinlich nur im ersten Jahr zu zahlen gewesen wären. Zunächst versuchten wir aus eigener Initiative Anhänger zu finden, betrieben Lobbyarbeit. 85 Zusagen konnten wir gewinnen. Sogar die Russen hatten nichts dagegen. Daraufhin schickten wir einen Bericht an den Botschafter, der unsere Petition aber nicht als Botschaftsbericht nach Bonn schickte, sondern nur als "cover-note". Das schien keine Wirkung zu haben. Da nahm ich Urlaub und flog auf eigene Kosten nach Bonn. Dort meldete ich mich beim Büroleiter von Außenminister Walter Scheel an und versuchte unser Anliegen klar zu machen. Es war ja eine einmalige Chance. Aber das Ergebnis waren Verhandlungen mit der DDR und Österreich. Beide Staaten hatten uns gegenüber Identitätskomplexe und waren nicht einverstanden. Wir erhielten leider die Weisung, diesen Antrag nicht zu stellen. In New York fragte man uns natürlich, wann denn unser Antrag käme. Da das nicht passierte, stellten kurz darauf die Araber einen Antrag, der innerhalb von zehn Minuten genehmigt wurde. Arabisch wurde Amtssprache bei der UNO. Das war für mich persönlich sehr frustrierend, die Chance war verpasst. Aber ansonsten war die Stelle dort in New York für mich ein fulminanter Einstieg, den ich woanders nicht besser hätte haben können.
Dienst in der Europa-Abteilung in Bonn
1974 ging ich zurück nach Bonn und arbeitete wieder multilateral in der Europa-Abteilung. Ich war zuständig für die Außenbeziehungen der Europäischen Union zu allen Industrie- und Entwicklungsländern mit Ausnahme der Staatshandelsländer, das waren die Staaten, die ein staatlich gelenktes Wirtschaftssystem hatten. Europapolitik war sehr viel mühsamer als die Arbeit bei der UNO. Es war ein riesiges, aber sehr interessantes Arbeitsgebiet, nicht zuletzt, weil Außenminister Dietrich Genscher seine europäische Phase hatte. Das war seine erste Phase. In seinen 18 Jahren als Außenminister hatte er zwei weitere Phasen: die Probleme, verbunden mit der dritten Welt und seine letzte und wichtigste Phase beinhaltete die Entspannungs- und Verständigungspolitik.
Pressereferent an der Botschaft in Indien
Danach wurde ich nach Indien versetzt. Dahin hatte ich mich beworben, zunächst aus der Überlegung heraus, ein Entwicklungsland von Grund auf kennen zu lernen, denn zwei Drittel in der UNO sind Entwicklungsländer und haben dort eine entsprechende Mehrheit. Wenn man multilateral arbeitet, muss man in einem Entwicklungsland gedient haben. Indien hat mich als Land gereizt. Dieses große Land besitzt eine 5000 Jahre alte und kulturell sehr bewegte Geschichte. Es unterhielt damals wegen des Konflikts mit China enge Beziehungen zu Russland. Aber Indien war nicht nur kulturell und politisch, sondern auch wirtschaftlich sehr interessant. Ich wurde Presse-Referent in der Botschaft, es war das größte Pressereferat in Südasien und ich hatte viel Geld zur Verfügung. Zusammen mit einem indischen Redakteur gab ich die "German News" heraus, damals die zweitgrößte illustrierte Zeitschrift Indiens, die 14-tägig erschien. Es war eine Zeitung wie der Spiegel. Es lief toll. Als ich mit dieser Arbeit begann, hatten wir eine Auflage von 83.000. Als ich wegging, eine Auflage von 153.000. Als Pressereferent hatte ich die Möglichkeit, im ganzen Land herumzureisen. So habe ich viel von Indien und ganz Asien erfahren. Das war schön, spannend und äußerst interessant.
1977 kam ich dort an, es war kurz vor den Wahlen. Alle Welt meinte, Indira Gandhi würde knapp gewinnen. Aber Morarji Ranchhodji Desai wurde Premierminister. Zwei Journalisten hatten mir das vorausgesagt. Sie hatten mit den Menschen im Land geredet und konnten deshalb die Lage real einschätzen. Seine Regierung liberalisierte das Land und Indien erreichte einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung. Es herrschte Föderalismus und eine funktionierende Demokratie. Wenn es irgendwo im Land zu Aufständen kam, gab es vorübergehend eine Art "president's rule" bis wieder Demokratie möglich war. Als ich 1979 wegging, erlebte ich erneut Wahlen, eine ähnliche Situation wie zu Beginn meiner Zeit in Indien. Man meinte Morarji Ranchhodji Desai würde knapp gewinnen, was jedoch nicht geschah. Er verlor haushoch. Auch das sagten mir Journalisten voraus.
Für mein persönliches Leben gab es in Indien einen wichtigen Einschnitt. Dort lernte ich meine zukünftige Frau als Kollegin kennen, die ich aber erst viele Jahre später wieder in Bonn traf, als meine erste Ehe bereits beendet war und ich schon lange Zeit allein lebte.
Arbeit im Planungsstab für Entwicklungs-, Europa- und Entspannungspolitik
Danach war ich wieder in Bonn und für ein paar Monate in der Europaabteilung tätig. Das war ein Deja-vu, aber auch eine gute Schule, weil ich dort bei Budgetverhandlungen mitmachen konnte, ein für mich völlig neuer Aspekt. Dann kam ich in den Planungsstab. Dort herrscht Gedankenfreiheit und man kann direkt für den Minister Vorschläge ausarbeiten. Ich war zuständig für Entwicklungs-, Europa- und Entspannungspolitik. Das Entscheidende war aber, dass ich auch Redenschreiber wurde - ein aufreibender Job, denn man musste schnell arbeiten und politisch oder auch akademisch anspruchsvolle Reden erarbeiten. Manchmal arbeitete ich die ganze Nacht durch. Man wusste auch nie, was der Minister daraus machte. Ich erlebte großes Lob, aber auch Kritik, es war ein ständiges Auf und Ab. Das war mitunter frustrierend. Das eine Mal schrieb ich eine große, ausführliche, wichtige und akademisch anspruchsvolle Rede, die Minister Genscher auf einem Weltkongress vor Historikern halten musste und auf der er im Anschluss vermerkte: "Hervorragende Rede!" Ein anderes Mal stand auf einer längst nicht so wichtigen Rede: "Völlig unbrauchbar!"
Aber spannend war es immer, sich zu vielen, manchmal auch brisanten Themen etwas auszudenken, was "Politik" wurde, sobald es der Minister öffentlich aussprach. Dazu mussten wir vom Planungsstab uns Informationen von den operativen Abteilungen holen, die uns oft als Konkurrenz empfanden und uns gerne austricksten. So manches Mal bemühten sie sich dann, dem Minister ihre Recherchen früher vorzulegen.
Vorsitzender des Personalrats des Auswärtigen Amtes
Dann wurde für mein weiteres berufliches Leben die Arbeit in unserer Hausgewerkschaft sehr wichtig. Als ich aus Indien zurückkam, herrschte im Ministerium eine aufgebrachte Stimmung über die Beförderungspolitik und an entsprechender Stelle in der Personalabteilung weigerte man sich, mit uns darüber zu reden. Nur mit Gewerkschaftsvertretern würde man verhandeln. Daraufhin gründeten wir eine Hausgewerkschaft. 25% Stimmen erhielten wir - unsere kleine Gruppe aus dem Haus - auf Anhieb und konnten damit den Personalratsvorsitzenden stellen und das blieb so für die nächsten zwanzig Jahre. Als wir 1982 wieder wählten, wurde ich Personalratsvorsitzender. Der Personalrat hatte besonders in unserem Ministerium viel Macht und Zugang zum Minister. Er musste allen Versetzungen und sozial wirksamen Entscheidungen zustimmen, und bei uns wurden ja alle drei Jahre Versetzungen vorgenommen, eine Versetzung zog die andere nach sich. Mir war klar, dass ich mich als Personalratsvorsitzender in einer Dreierkonstellation befand, zwischen Minister und Verwaltung. Deshalb beschloss ich, entweder mit dem Minister gegen die Verwaltung vorzugehen oder mit der Verwaltung gegen den Minister. 95 % aller Fälle wurden so mit dem Minister gegen die Verwaltung geregelt. Minister Genscher wusste, dass wir uns an entscheidenden Stellen im Parlament und in der Presse bemerkbar machen und durchzusetzen vermochten. Er steuerte die Dinge meistens so, dass er Ärger mit dem Personalrat umging.
Ich engagierte mich persönlich sehr als Personalratsvorsitzender, in dieser Zeit hat der Personalrat viele Reformen vorangebracht und u. a. ein eigenes Gesetz für den Auswärtigen Dienst im Parlament initiiert.
Nach drei Jahren als Personalratsvorsitzender bewarb ich mich als Botschafter in Trinidad und Tobago. Das ist nicht unbedingt eine zentrale, aber die größte Regionalbotschaft Deutschlands. Dazu gehören 13 Staaten, in denen man akkreditiert ist, wo man mindestens eine Woche im Jahr verbringen muss. Weil ich da in der Karibik nicht mit dem Auto herumreisen konnte und es mir zu gefährlich erschien, lokale Airlines zu benutzen, beschloss ich mir ein kleines Privatflugzeug, eine kleine Cessna, zuzulegen. Ich machte in Bonn den Flugschein. Davon erfuhr der Minister. "Sagen Sie, Herr Pleuger, was wollen Sie in Trinidad? Gehen Sie doch in eine Botschaft, wo was los ist, wie Brüssel oder Moskau." Als ich ihm erklärte, dass ich da erst hinwollte, wenn ich älter wäre, schien er einverstanden zu sein. Doch es kam anders. Kurz vor dem Ende meiner Amtszeit bot er mir ein Referat in seinem Leitungsbereich an, ein Referat, das zuständig war für das Parlament, für die politischen Parteien und für die Öffentlichkeitsarbeit. Das konnte ich nicht ablehnen. So kam ich nicht in die Karibik, aber fliegen konnte man auch in Bonn.
Leiter des Referats Öffentlichkeitsarbeit
Nach einer Woche entschied ich mich für dieses Angebot, obwohl wir schon auf gepackten Koffern saßen. Da blieb ich drei Jahre - von 1985 bis 1988 - es war eine hochspannende Arbeit. Ich fuhr zu den Parteitagen aller im Bundestag vertretenen Parteien, denn die Außenpolitik musste auch über die Innenpolitik informiert sein, wenn sie nachhaltig betrieben werden sollte. Es muss ein Grundkonsens da sein. Am Anfang bezeichnete man mich als "Spion der FDP", aber als dieses Missverständnis ausgeräumt war, wurde ich als Vertreter des Auswärtigen Amtes akzeptiert.
Politischer Gesandter in Washington
1988 wurde ich politischer Gesandter in Washington, der Leiter der politischen Abteilung an der Botschaft. Dort traf ich auf eine hervorragende Arbeitsgruppe, zwei hochbegabte Frauen waren dabei. Es war wieder eine Zeit, in der sich große politische Umwälzungen ereigneten: der politische Wechsel in Europa und die deutsche Wiedervereinigung. Am 09. November 1989, als die Mauer geöffnet wurde, saßen wir in unserer Kantine, im Keller der Botschaft und diskutierten darüber, dass Honecker doch endlich die Mauer öffnen solle. Als ich dann in mein Büro zurückkam, hörte ich im Fernsehen, was passiert war. Wir waren zu Tränen gerührt. Es war eine Zeitenwende, mit der keiner gerechnet hatte. Als zwei Tage später Präsident Bush senior im Fernsehen sprach, redete er nur über Sicherheit und Stabilität, die ja bis dahin durch den Druck auf Osteuropa gewährleistet und nun weggebrochen war. Man sah dem amerikanischen Präsidenten, diesem mächtigen Mann, seine Unsicherheit und Angestrengtheit an. Nach einer Übergangszeit und in einer gewissen Zeit der Instabilität wurde es klar, dass eine neue Stabilität durch Marktwirtschaft, Demokratie und Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen geschaffen werden musste. Nachdem das klar entschieden war, setzte man sich in Washington voll dafür ein und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begannen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der am 12. September 1990 unterzeichnet wurde und am 15. März 1991 in Kraft trat, machte den Weg für die vollständige Souveränität Deutschlands und den Abzug der sowjetischen Truppen frei. Deutschland sollte in Zukunft keinerlei Ansprüche auf ehemals deutsche (und in Polen liegende) Gebiete stellen. Es war eine europäische Vereinigung. Zwei Nationen mit einer schwierigen Geschichte erfüllten sich einen Traum: die Deutschen den Traum der Einheit und die Polen den der gesicherten Existenz in Freiheit. Natürlich gab es auch Probleme und nach dem 10-Punkte Programm Kohls drohte Unheil. Bei der einflussreichen jüdischen Lobby wurde gefragt, ob die Deutschen überhaupt die Wiedervereinigung verdient hätten und die Polen fragten, warum Kohl nicht die Westgrenze bereits 1970 anerkannt hatte? Das war gefährlich, denn die jüdische Lobby gehörte zu den Stärksten, die polnische Lobby war die zweitstärkste. Einen wichtigen Beitrag zur Entspannung leistete Botschafter Jürgen Ruhfus.
Meine Aufgabe war es, mit den Polen zu reden. Das war äußerst schwierig, dahinter stand die sehr starke polnische Lobby. Sie war in Washington versammelt und in den Diskussionen ging es die gesamte Zeit um Holocaust, Nazismus usw. Etwa 1000 Leute aus ganz Amerika verbreiteten im Saal eine furchtbare Stimmung. Als ich meinen Vortrag hielt, verwies ich auf die Schlussakte von Helsinki. Ich bemühte mich, authentisch zu vermitteln, dass kein verantwortlicher Politiker mehr die polnische Westgrenze in Frage stelle. Aber die Stimmung änderte sich nicht. Da stand ein alter Mann auf, nahm seine künstlichen Zähne aus dem Mund und sagte: "Ich bitte, mir zuzuhören. Meine Zähne sind mir in Auschwitz von den Deutschen herausgeschlagen worden. Ich habe also überhaupt keinen Grund, für die Deutschen zu sprechen, aber dieser junge Mann, der da oben sitzt, das ist nicht der Nazi, der mir die Zähne ausgeschlagen hat. Er hat damit nichts zu tun, er verkörpert das neue Deutschland, mit dem wir befreundet sein sollten." Da schlug die Stimmung um, viele lagen sich in den Armen. Diesen Mann werde ich nie vergessen. Es war ein Ereignis, an das ich immer denken werde.
Probleme gab es auch mit der englischen Regierung, davon hat mir der Außenminister Genscher persönlich erzählt. Der englische Außenminister Hurd hatte Weisung, bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen nur zu unterschreiben, wenn festgeschrieben würde, dass die britische Armee auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mit Atomwaffen üben dürfe. In Gegenwart von Genscher und dem amerikanischen Außenminister Baker hat der englische Außenminister Magret Thatcher angerufen und auf Rücknahme dieser Forderung gedrängt. Am nächsten Tag wurde dann der Vertrag unterschrieben.
Am 3. Oktober 1990 wurde in der Washington National Cathedral ein ökumenischer Gottesdienst abgehalten. Das hatte eine ungeheure Symbolik. Der Bau begann 1907 mit der Grundsteinlegung in Gegenwart des US-Präsidenten und dauerte 83 Jahre; der letzte Stein wurde an diesem Tag in Gegenwart vom Präsidenten H. W. Bush eingefügt. 3500 Menschen nahmen an diesem Gottesdienst teil, auf den Rängen gab es noch keine Sitzplätze. Es war eine berührende Atmosphäre. Im Rosengarten des Weißen Hauses wurde die deutsche Einheit gefeiert, zu deren Verwirklichung die Amerikaner viel beigetragen hatten.
In dieser Zeit habe ich 47 der 50 US-Staaten auf Einladungen von Universitäten besucht und darüber informiert, was in Deutschland vor sich ging. Die Amerikaner waren sehr interessiert. Erst 1993 ging ich zurück nach Bonn und wurde Leiter der Abteilung Vereinte Nationen. 1991 hatten die Inder eine Resolution zur Reform des Sicherheitsrates eingebracht. Daraufhin rief Außenminister Baker in der Botschaft an und zitierte uns in sein Büro. Er informierte uns, dass die USA Deutschland und Japan als neue ständige Mitglieder des Sicherheitsrates vorschlagen würden. Es würde die vernünftige demokratische Fraktion im Sicherheitsrat stärken. Man könne auf Dauer nicht die zweit- und drittgrößten Ressourcen-Geber der UNO aus dem Sicherheitsrat heraushalten, Japan und Deutschland könnten zugleich die USA im Sicherheitsrat und bei Peace keeping Operationen entlasten. Das war eine große Herausforderung für Deutschland, denn man darf nicht vergessen, dass zu dieser Zeit in der Bundesrepublik die Ansicht herrschte, Deutschland dürfe sich aus Verfassungsgründen nicht an militärischen Aktionen außerhalb der NATO beteiligen.
Erst 1994 entschied das Bundesverfassungsgericht anders. Daraufhin gab es einen entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundeskabinetts unter Führung von Bundeskanzler Kohl. Das hatte zur Folge, dass es ständige Verhandlungen zwischen USA, Deutschland und Japan gab. Weil die Briten unter Major dagegen waren, konnten auch die Franzosen nicht miteinbezogen werden. Erst 1997 gab es eine entsprechende Erweiterung auf eine Fünfer-Gruppe, die zehn Monate lang verhandelte. Die letzte Verhandlung fand in Berlin im Hotel "Four Seasons" am Gendarmenmarkt statt. Die Fünf: USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Japan hatten eine fertig abgestimmte Resolution zur Reform der Mitgliedschaft und der Verfahrensregeln des Sicherheitsrates. Aber dann erfuhren wir, dass Kanzler Kohl einen außenpolitischen Berater nach Washington geschickt hatte und erklären ließ, dass er gar nicht in den Sicherheitsrat wolle, um sich nicht in alle Händel der Welt einmischen zu müssen. Deshalb tat sich bis 2005 gar nichts in dieser Richtung, bis Kofi Annan seine große Reforminitiative einbrachte. Auch da fanden wir weltweit Zustimmung. Aber John Robert Bolton - von 2005 bis Dezember 2006 Botschafter der USA in der UNO - hielt eine Brandrede gegen die G4-Staaten (Deutschland, Brasilien, Indien und Japan) und danach weigerten sich die Japaner, zur Abstimmung zu schreiten. Das war meine zweite große persönliche Enttäuschung.
Leiter der politischen Abteilung im Außenministerium
Als 1998 die Regierung Kohl endete, wurde ich bei Außenminister Joschka Fischer politischer Direktor, Leiter der politischen Abteilung. Das ist die spannendste Position im Auswärtigen Amt, wo man ganz eng beim Minister angebunden ist. Er hat es mir nie gesagt, warum er gerade auf mich kam. Ich begleitete ihn auf seiner ersten Reise nach Paris, dann nach London und Warschau. In Warschau legte Fischer einen Kranz am Kriegerdenkmal und wie Willy Brand auch am Ghettodenkmal nieder. Als wir dort alle zusammen neben dem polnischen Außenminister Geremek standen, sagte dieser völlig ruhig und neutral: "Die große, grüne Fläche, die Sie hier sehen, war das Warschau meiner Jugend." Das war ein sehr berührendes Erlebnis. Geremek und Fischer wurden echte Freunde. Als wir abends im Gästehaus der polnischen Regierung an einer reich gedeckten Tafel zusammen mit etlichen polnischen Intellektuellen saßen, bat Fischer um etwas gekochtes Gemüse und ein Glas Wasser. Er meinte, er habe ein Gelübde abgelegt: kein Alkohol, kein rotes Fleisch, kein Sex. Alles lachte, denn an diesem Tag stand in den Zeitungen, dass er eine neue Freundin habe.
Zu der Zeit wurde auch das Weimarer Dreieck wiederbelebt. Als dazu ein Treffen in Krakau vorbereitet wurde, wurde der Ort kurzfristig und problemlos durch Geremek geändert, weil wir in Deutschland das Goethejahr feierten und obwohl die Vorbereitungen in Krakau bereits liefen, trafen sich die französischen, polnischen und deutschen Teilnehmer in Weimar. "Joschka, für Dich tu ich das!" sagte Geremek. Er war ein wirklich hinreißender Mensch. Das erregte gelegentlich ein wenig Eifersucht beim französischen Außenminister Védrine.
Staatssekretär bei Außenminister Fischer
Seit 1999 war ich Staatssekretär und Vertreter des Ministers. Das war eine faszinierende Arbeit, wo ich mitgestalten konnte. Aber es war auch anstrengend.
In dieser Zeit hatte Deutschland die EU-Präsidentschaft, den G8-Vorsitz, den Schengen-Vorsitz und den Vorsitz in der Westeuropäischen Union (WEU). Das Sieben-Jahresbudget der Europäischen Union musste verhandelt werden. Daran erinnere ich mich noch sehr genau, es dauerte drei Tage und Nächte und erst am letzten Morgen um sechs Uhr kam es entgegen allen Erwartungen zu einer Einigung. Dann begann 1999 - genau am 25. März, an meinem Geburtstag - der Kosovo-Krieg. Dieser Krieg wurde von der NATO beschlossen, weil die Russen in New York durch ihr VETO eine legitimierende Sicherheitsratsresolution boykottiert hatten. Ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates flog die NATO Luftangriffe gegen einen souveränen Staat. Legitimiert wurden sie als Akt der Nothilfe für die verfolgten Kosovo-Albaner. Meiner Meinung nach war der Krieg zwar völkerrechtswidrig, aber politisch notwendig. Wir konnten doch in Europa nicht wegsehen, wenn so viele Menschen abgeschlachtet und aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Aber in Deutschland war die Hölle los, es gab eine Verfassungsklage.
Dann kamen der 11. September 2001 und der Afghanistan-Krieg. Als Bundeskanzler Schröder die Unterstützung der USA durch deutsche Truppen befürwortete, sah er sich gezwungen, eine Vertrauensabstimmung im Bundestag durchzuführen, die er nur mit einer Mehrheit von zwei Stimmen gewann.
Botschafter in New York
2002 ging ich als Botschafter nach New York. Außenminister Fischer hätte mich gern in seinem Ministerium behalten, aber ich wollte wenigstens einmal in meinem Leben "Großbotschafter" gewesen sein. Es wurde eine spannende Zeit. Ich erlebte, wie am 8. November 2002 im UN-Sicherheitsrat die berühmte Resolution Nr. 1441 gegen Saddam Hussein erlassen wurde. Dem Irak sollte eine letzte Chance gegeben werden, mit den Inspekteuren der UNO und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zusammenzuarbeiten und zudem weitere Resolutionen der Vereinten Nationen zu erfüllen.
Ab Januar wurde Deutschland Mitglied im Sicherheitsrat und ab Februar übernahmen wir den Vorsitz der Vereinten Nationen. Im Januar beantragten die USA zum zweiten Mal für die USA die Immunität vor dem Internationalen Strafgericht. Wir betrachteten den Internationalen Strafgerichtshof nicht als eine Gefährdung des internationalen Zusammenlebens, sondern als eine Zivilisationsmaßnahme. Zudem waren Deutschland und Jordanien die Schlüsselfiguren zur Ausarbeitung der Verträge zur Schaffung des Internationalen Gerichtshofes. Wir enthielten uns deshalb im Sicherheitsrat der Stimme, eigentlich hätten wir mit Nein stimmen müssen. Das führte dazu, dass auch die Franzosen sich enthielten.
Am 5. Februar 2003 folgte Colin Powells denkwürdiger Auftritt im Weltsicherheitsrat. Der amerikanische Außenminister plädierte für den Sturz Saddam Husseins, da dieser im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei, biologische Kriegswaffenlabore betreibe und "yellow cakes" zum Bau von Nuklearwaffen angekauft habe. Der CIA-Direktor Tenet und der amerikanische Botschafter saßen wie versteinert da. Fischer war eigens zu der Sitzung gekommen und saß in der ersten Reihe. Im Raum herrschte eine gespenstische Spannung. Es war einfach nicht vorstellbar, dass der Krieg noch aufzuhalten war, zu groß war bereits der Aufmarsch der Amerikaner am Persischen Golf.
Alle wussten auch, dass es falsch war, was Colin Powells vortrug. Wir konnten uns jedoch nicht vorstellen, dass er lügt, weil er ein sehr sympathischer Mensch, ein Gentleman war. Ich wusste es, weil ich sehr gute Beziehungen zu den beiden Inspektoren für konventionelle und nukleare Abrüstung hatte. Sie hätten eigenen Aussagen nach zwei Monate später ihre Berichte vorlegen können. Im September 2005 bedauerte Powell diese Rede und bezeichnete sie als einen "Schandfleck" in seiner Karriere. Die Sache mit dem "yellow cake" kam angeblich vom Britischen Geheimdienst und war eine sehr schlechte Fälschung. Der Kaufvertrag über "yellow cake" soll von einem Minister unterschrieben worden sein, der schon seit zehn Jahren tot war. Wir wurden da mithineingezogen. Wir hatten 1999/2000 in Deutschland einen Flüchtling, einen Asylbewerber aus dem Irak, der angab, in Fabriken, wo angeblich Biowaffen hergestellt wurden, gearbeitet zu haben. Diese Informationen gaben wir sofort weiter an die Engländer, Franzosen und an die Amerikaner, aber diese Behauptungen stimmten nicht. Bis 2003 hatte kein Geheimdienst einen Hinweis darauf. Dieser Mann sollte dann interviewt werden. Doch er saß inzwischen in der Schweiz in der Psychiatrie ein. Das Gespenstische an diesen Geschichten war eine Diskussion und eine Entscheidung, die auf Lügen aufgebaut war und die Folge war der Tod von Tausenden von Menschen, 4.500 junge Amerikaner zwischen 19 und 23 Jahren und 100.000 bis 300.000 Iraker sind gefallen. Wie sollte man Eltern und Geschwister das erklären? Diese Zeit war für mich die schwierigste, die ich je hatte. Ich war überzeugt, exakt gegen diesen Krieg arbeiten zu müssen. Das sah ich als meine Aufgabe an. Da beschuldigte man mich, die nicht ständigen Mitglieder gegen die USA aufgewiegelt zu haben. Das ging so weit, dass ständig Beschwerden der Amerikaner nach Berlin gingen.
Pensionierung und Lehrauftrag in Potsdam
2006 wurde ich pensioniert. Da habe ich zuerst acht Tage lang eine "Dienstaustrittsreise" auf der "Queen Mary II" nach Hamburg gemacht. Dann übernahm ich für zwei Jahre einen Lehrauftrag über internationale Politik und multilaterale Verhandlungstechnik am Lehrstuhl für Politikwissenschaften in Potsdam, zusammen mit zwei Kollegen, einem ehemaligen Botschafter für Osteuropa und dem ehemaligen Staatssekretär des Verteidigungsministeriums. Das hat mir großen Spaß gemacht, bis der Anruf aus Frankfurt (Oder) kam. Ich wurde zur Findungskommission eingeladen, in der es um die Nachfolge von Frau Schwan ging. Ich war noch nie in Frankfurt (Oder) gewesen und kannte hier niemanden. Ich überlegte, denn es war ein full-time-Job, der dort auf mich zukam. Aber ebenso zeigte sich da für mich eine ganz neue Herausforderung, die an mein früheres Leben anknüpfte. Die Universität hier ist die internationalste deutsche Universität und die Beziehungen zu Polen und die Stadt hier waren für mich Neuland.
Präsident an der Europa Universität Viadrina
Nach einigem Hin und Her fasste der Stiftungsrat seinen Entschluss und der Senat wählte mich für sechs Jahre zum Präsidenten der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Jetzt habe ich vier Jahre hinter mir. Bisher habe ich es keinen Tag bereut, diese Präsidentschaft übernommen zu haben. Ich möchte solange bleiben, wie mir diese Arbeit weiter Freude bereitet. Diese Freiheit nehme ich mir. Der Satz meines Vaters: "Das was Du tust, muss Dir Spaß machen und Du musst davon überzeugt sein!" begleitete mich mein Leben lang. Ich hatte auch immer das Glück, eine Tätigkeit zu erhalten, die spannend war. Das lag nicht immer nur an mir, aber gab mir die notwendige Energie. Vielleicht ist es auch mein Temperament. Es gab immer unterschiedliche, vielschichtige, aber auch gleichbleibende Werte und Vorstellungen, die mein Leben bestimmten. Mit 18 Jahren wollte ich Revolution machen, mit 20 Journalist werden, um die Welt zu verändern.
Auch die Welt hat sich im Laufe meines Lebens stark verändert. Das bewerte ich positiv. Wir haben noch viele Konflikte in der Welt, Hunger und unendlich viele andere Probleme zu lösen. Mit der wachsenden Globalisierung brauchen wir auch globale Lösungen und globale Institutionen. Die einzige, die wir haben, ist die UNO und die funktioniert gegenwärtig nicht gut. Wenn neue Regelwerke geschaffen werden, die Malaria, die Tsetsefliege, der Terrorismus oder der Tsunami bekämpft werden sollen, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verhindert werden muss, kann das kein einzelner Staat leisten. Es sind globale Lösungen erforderlich, um die Weltwirtschaftskrise zu beherrschen. In der Vergangenheit hatten viele Konflikte ihren Ursprung in unterschiedlicher Lebensart, unterschiedlicher Erinnerungskultur und unterschiedlicher Geschichte. Aus dem Gefühl der Gefährdung der eigenen Identität durch andere Kulturen sind viele Kriege entstanden. Heute haben wir die Europäische Union. Das ist unsere größte Errungenschaft. Die verschiedenen Identitäten werden nicht mehr als Bedrohung der eigenen Identität empfunden, sondern als Bereicherung der gesamten Union. Das Problem heute ist jedoch, dass die jungen Leute die davor liegende Zeit nicht mehr kennengelernt haben. Deshalb ist es besonders wichtig, sie dazu zu erziehen und zu überzeugen, für eine solche gemeinsame Sache zu arbeiten. Etwas zu verändern, etwas zu gestalten war für mich immer sehr wichtig und bestimmte mein ganzes Leben.