Brigitte Brüning

Brigitte Brüning

Bevor ich Sie auf die Reise durch mein Leben mitnehme, möchte ich mit drei Dingen beginnen, die mich geprägt haben.
Meine Heimatstadt Frankfurt an der Oder
Zuerst möchte ich meiner Heimatstadt Frankfurt (Oder) eine Liebeserklärung machen, denn hier bin ich am 26.04.1940 geboren und noch immer lebe ich sehr gern hier. Im letzten Winter stand ich oft am Ufer der Oder und blickte auf die rosenförmigen Eisformationen, die diesen Fluss erstarrt, aber dennoch lebendig erscheinen lassen. Ich bin froh, wenn ich aus dem Fenster unserer Wohnung in der Fischerstraße schaue und den Wechsel der Jahreszeiten erlebe, den aufsteigenden Nebel, den Sonnenauf- und -untergang, den Mond und die herbstliche Verfärbung der Blätter beobachten kann.

In diesen Momenten weiß ich, dass Frankfurt (Oder) für mich eine liebens- und lebenswerte Stadt ist, gekennzeichnet von einer faszinierenden Landschaft und von alten Baudenkmälern, die das Stadtbild prägen, wie die Marienkirche mit ihren vielen Geheimnissen. Meine Enkel glauben mir bis heute nicht, dass sich an der Marienkirche die Abdrücke eines Teufelsfußes befinden. Ein hervorragendes Kultur- und Bildungsangebot lässt mich nicht müde werden. Ich könnte so vieles aufzählen, wie das Kleist Museum und die Galerie "Junge Kunst" oder auch die Konzerte des Staatsorchesters in unserer geschichtsträchtigen Konzerthalle, die sicher schon jedem von uns unvergessliche Momente bescherten. Da mein Mann und ich hier im Zentrum wohnen, können wir all diese wunderbaren kulturellen Angebote problemlos ohne lange Anfahrtswege nutzen. Und doch sind es die stillen Momente bei einer Tasse Kaffee hier in der Stadtbibliothek, die mich zur Ruhe und Einsicht kommen lassen. Aber Frankfurt zeigt sich auch von seiner Schattenseite. Die hohe Arbeitslosigkeit, die Kinder -und Altersarmut, die Abwanderung vieler junger Menschen, die auch uns als Familie betroffen hat, da meine Tochter mit ihrem Mann und unseren Enkeln seit 13 Jahren in Süddeutschland lebt, und nicht zuletzt die hohe Grenzkriminalität sind dafür ein Ausdruck.

Wie bin ich zum Schreiben gekommen?
Ich habe zwei Enkel: Paul und Jakob - es sind Zwillinge, sie sind 1991 geboren. Sie haben mich zum Schreiben gebracht. Als sie sechs oder sieben Jahre alt waren, sagten sie immer wieder zu mir: "Oma erzähl doch mal von früher!" Wenn ich ihnen dann erzählte, wie sich mein Vater über eine Hand voll Stachelbeeren freute, die er für die Oma in der Gärtnerei Jungclausen, im heutigen Stadtteil Neuberesinchen, pflückte und sich dabei die Finger zerstach, hörten sie fast amüsiert zu und fragten doch immer weiter. Und so berichtete ich aus meiner Kindheit, erzählte von Krieg und Nachkriegszeit, über Hunger, Kälte und unsere Evakuierung. Sie hörten sehr interessiert zu und beendeten die Erzählungen immer mit dem gleichen Satz: "Ach Oma, das waren doch andere Zeiten!" Das alles war für sie fremd, wie Erzählungen aus einer anderen Welt. Die Kinder von heute können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man keine Schuhe, nur wenig Kleidung, kein eigenes Bett, kein Buch, kaum Spielzeug hat, wie es ist, in einer Zeit ohne Telefon, Briefverkehr, Fernsehen und Internet zu leben, in der es kaum Autos und nur wenige Fahrräder gab, wo die Eltern damit beschäftigt waren, für das Überleben zu sorgen. Wie oft waren auch die Eltern in den Kriegswirren verloren gegangen oder verstorben.

Da kam mir über die Nacht die Idee, meine Erinnerungen für meine Enkel aufzuschreiben. So habe ich zu ihrer Einschulung ein Tagebuch angelegt und eine Geschichte über meinen ersten Schultag niedergeschrieben. Immer, wenn ich Zeit und Ruhe hatte, schrieb ich weiter an diesem Buch, sodass viele Erlebnisse folgten. Als ich in der Hutten-Buchhandlung in Frankfurt einen Aufruf des Zeitgut-Verlages vorfand, habe ich mich an den Verlag gewandt und ein Manuskript eingeschickt. Inzwischen sind mehrere meiner Geschichten veröffentlicht worden.

Was ist das Dritte, das mich geprägt hat?
Mein Leben - wie das vieler Menschen, die auch hier leben - ist von Umbrüchen geprägt: der Krieg, das Leben in der jungen DDR, die es aufzubauen galt, das Weiterleben in dieser Republik - über 40 Jahre lang - und dann die Wende 1989. Immer wieder galt es, sich neu zu orientieren, sich neue Ziele zu stecken, nicht zu resignieren, sondern nach vorn zu schauen. Das gelang mir nicht immer, denn auch mein Leben wurde von traurigen Ereignissen überschattet, die bis heute in mir wirken. All das gehört zu meiner Lebensreise, und von dieser Reise möchte ich heute berichten und lade Sie nun dazu ein.

Die Geschichte von meinem ersten Schultag.
Einiges ist mir in Erinnerung geblieben, manches verworren und einiges hat mir meine Großmutter erzählt. Ich weiß auch gar nicht mehr den Namen meiner Lehrerin. Ich habe sie einfach Fräulein Glaser genannt. Wir gehörten zu den ersten Abc-Schützen in Frankfurt (Oder) nach dem Krieg. Es war am 2.September 1946. Drei Schulen hatten bereits 1945 den Schulbetrieb aufgenommen und am 2. September 1946 kamen noch vier weitere dazu. Unser erster Schultag war ein sonniger warmer Montag. Jedes Kind, das sechs Jahre alt war, kam in die erste Klasse, manche waren schon älter. Sie waren bereits 1944 eingeschult worden, aber durch Flucht und Vertreibung wurde ihr Schulbesuch unterbrochen und nun waren sie wieder zurückgekehrt oder kamen von ganz woanders hierher. Ich wurde im ehemaligen Realgymnasium in der Wieckestraße eingeschult. Ich zog das rot-weiß-karierte Kleid an, das ich bereits seit zwei Jahren trug. Meine Tante Martha hatte es mit weißen Stoffstreifen verlängert, so dass ich das Kleid noch einige Zeit länger anziehen konnte. Dazu trug ich braune Halbschuhe mit gehäkelten Schnürsenkeln, die ich zum Leidwesen meiner Großmutter immer noch nicht zur Schleife binden konnte. Eigentlich waren mir diese Schuhe zu klein, aber mein Vater hatte sie einfach vorne aufgeschnitten. Alle Zehen schauten heraus, aber sie drückten nun nicht mehr. Meine dunklen Socken bestanden fast nur aus gestopften Stellen.

Meine Großmutter und mein kleiner Bruder, der gerade fünf Jahre alt geworden war, begleiteten mich. Wir gingen die Theaterstraße entlang, dort wo sich heute die Sparkasse und das Kleistforum befinden. Rechts türmten sich Ruinen und Schuttberge, dort arbeiten die Trümmerfrauen. Ihre Kinder spielten da am Rande mit kleinen Steinen, die sie immer wieder in das gleiche Loch warfen. Die Frauen sortierten Trümmerteile von bereits zum Einsturz gebrachten und beschädigten Häusern. Mauersteine, Dielen und Holzbalken wurden gereinigt und zur Wiederverwendung bereitgelegt, ebenso Kabel und Rohre, die später eingeschmolzen wurden. Die Holzreste waren begehrtes Brennmaterial. Alles, was nicht weiter verwendungsfähig war, kam auf die Schutthalde. Wir liefen auch die Gurschstraße entlang, das ist heute die Straße Am Kleistpark. Dort hatten wir bis Februar 1945 gewohnt. Ende Februar wurden wir nach Berlin evakuiert und fanden bei meiner Tante Lieselotte Unterkunft. Das war unser Glück, denn im April 1945 zerstörte ein Bombenangriff fünf Häuser in dieser Straße. Darunter war auch unser Haus, nur ein paar Wände waren stehen geblieben. Meine Gedanken gingen an diesem Tag auch zu meiner Mutti. Ich wurde ganz traurig und still, denn sie war erst im Januar an einer Lungenentzündung gestorben.

Durch die schlechte Ernährung fehlten ihr Abwehrkräfte und innerhalb von nur vier Tagen war sie tot. Das Penicillin, das ihr Leben hätte retten können, gab es bei uns in Deutschland noch nicht, das erklärte mir mein Vater.

Als wir in der Schule angekommen waren, versammelten wir Erstklässler uns auf dem Schulhof. Nur wenige hatten eine Schultüte. Ich war glücklich über meinen alten, abgeschabten braunen Ranzen. Ich weiß nicht, wo mein Vati ihn aufgetrieben hatte. Viele Kinder mussten sich mit einem kleinen Beutel behelfen. In meinem Ranzen befanden sich Schiefertafel und Griffel, ein kleiner Lappen hing an einer Schnur herunter und baumelte bei jedem Schritt. Ich hatte auch meinen Teddy mitgenommen, ein Arm schaute aus dem Ranzen heraus. Er war mein einziges Spielzeug. Unsere Namen wurden aufgerufen, ich kam in die Klasse 1b. Ca. 30 Jungen und 20 Mädchen waren wir in einer Klasse. Unsere Lehrerin war ungefähr 35 Jahre alt, groß und dünn. Sie hatte lange rote Haare, ein blasses Gesicht mit Sommersprossen und trug ein dunkelblaues Kostüm, eine hochgeschlossene Bluse und schöne blaue Absatzschuhe. Sie wirkte streng und unnahbar. Sie lächelte nie. Mir war sie nicht gerade sehr sympathisch. Jeder Schüler musste sich einen Platz suchen. Wir übten das Stillsitzen und Stillsein. Die Arme und Hände sollten ordentlich auf der Bank liegen, mit kerzengeraden Rücken saßen wir da. Streng und mit festem Schritt ging unsere Lehrerin durch die Bankreihen. Wir waren wohl nicht so ruhig, wie sie sich das wünschte, viele schwatzten. Da rief sie: "Euch wird das Schwatzen schon vergehen." Zuerst mussten wir unseren Ranzen und unseren Beutel auspacken, die Schiefertafel hinstellen und den Griffel auf den Tisch legen.

Ich setzte auch meinen Teddy mit auf den Tisch, der auf einmal ganz laut brummte. Da schimpfte Fräulein Glaser mit mir. "Wir sind hier in der Schule und nicht im Kindergarten." Aber ich hing so sehr an meinem Teddy. Seit meinem ersten Geburtstag begleitete er mich, von meiner Mutti hatte ich ihn geschenkt bekommen. Auch sie hatte als Kind schon mit ihm gespielt. Mit meinem Teddy habe ich Mutter und Kind, Postbote und Doktor gespielt. Auch gefüttert und gebadet habe ich ihn, so sah er dann auch aus. Aber ich liebte ihn so, wie er war. Nur ihn durfte ich mitnehmen, als wir evakuiert wurden. Für mich war er der liebste Kuschelteddy. Heute habe ich ihn nicht mehr. Weil er so furchtbar aussah, hat ihn mein Mann eines Tages verbrannt. Das verzeihe ich ihm bis heute nicht. Aber gerettet habe ich ein Kleidchen von meinem Teddy, es war auch mein Taufkleidchen gewesen.

Unsere Lehrerin hämmerte auf uns ein. Sie erklärte laut und mit Nachdruck, was sie von uns erwartete: Fleiß, Pünktlichkeit und Unbestechlichkeit. Sie hasse Faulpelze und Feiglinge. Wir müssten viel lernen, mitarbeiten und wissbegierig sein. Schließlich lernten wir für unser späteres Leben, nicht für sie. So redete sie laufend auf uns ein. Inzwischen war es Mittag geworden. Da gab es eine Schulspeisung, eine dicke Brotsuppe, die stark nach Kümmel duftete. Unsere Blechbecher wurden bis zum Rand gefüllt - das genossen wir. Mir schien, ich hätte noch nie so eine leckere, köstliche Suppe gegessen. Für manche Kinder war es die erste Mahlzeit. Ich hatte schon früh eine klietschige Brotscheibe mit Öl beträufelt und mit ein wenig Zucker essen dürfen. Wie waren wir damals froh, wenn wir satt wurden. Abends freuten wir uns über das "Hasenbrot", das mein Vater von der Arbeit übrig behielt und für uns mitbrachte.

Als die Schule an diesem ersten Tag beendet war, beschloss ich, nicht mehr zur Schule zu gehen. Ich fand die Lehrerin zu streng. Aber wie sollte ich das nur anstellen? Da kam mir ein Gedanke: ich wollte hinfallen und mir den Arm brechen. Sehr schnell rannte ich den Berg hinunter. Es klappte, ich stürzte, aber mein Arm blieb ganz. Ich hatte mir nur das Knie aufgeschlagen und es blutete stark. Ich heulte jämmerlich, aber zu Hause wollte ich nicht sagen, dass ich das absichtlich gemacht hatte. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, als am nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen.

Für mich ist sehr erfreulich, dass wir Schüler aus der damaligen ersten Klasse uns immer noch treffen, mindestens einmal im Jahr. Wir gehen noch gemeinsam auf Klassenfahrt. Leider werden wir immer weniger, einige sind schon verstorben.

Kriegs- und Nachkriegszeit

Die Kriegszeit war für mich mit dem Erlebnis vieler Bombennächte geprägt. Als wir nach Berlin evakuiert wurden, bezogen wir in Klein Manchnow ein kleines Zimmer unter dem Dach. Fast jede Nacht hieß es, zigmal in den Keller zu gehen, denn über Berlin wurden viele Bomben abgeworfen. Das bedeutete für uns: Anziehen, Ausziehen und war immer mit viel Aufregung verbunden. Einmal sagte mein Vater: "Heute gehen wir nicht runter in den Keller, es wird schon nichts passieren." In dieser Nacht sahen wir dem Bombenangriff direkt aus unserem Fenster zu, sahen wie die Bomben wie die Christbäume niedergingen. Es war furchtbar. Ringsherum wurde viel zerstört, doch unserem Haus passierte nichts. Diese Bombennächte sind für mich heute noch ein Trauma, das tief in mir drin sitzt. Ich kann mich noch an das erste Pressefest - vielleicht war es 1953 - hier in Frankfurt erinnern, als es nachts ein Feuerwerk gab. Da bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt und dachte, es wäre wieder Krieg. Diese Zeit hat mich stark geprägt. Ich kann mich erinnern, dass auch meine Großmutter sehr oft vor Angst zitterte. Auch Kälte und Hunger waren unsere Weggefährten. Nach unserer Rückkehr fanden wir in der Bardelebenstraße eine Unterkunft, unser Haus war ja zerstört. Es war eine leere Wohnung, nur ein Klavier und ein riesengroßer Kühlschrank standen darin. Sie gehörte einmal dem Hotelbesitzer vom Nürnberger Hof.

In dieser Zeit besaßen wir alle nichts und trotzdem war der Zusammenhalt gerade in unserer Hausgemeinschaft sehr gut. Erst neulich besuchte ich eine alte Frankfurterin, die heute 96 Jahre alt ist und damals in unserem Haus lebte. Sie sagte, dass sie sich gerne an die gute Gemeinschaft in unserem Haus erinnere.

Auch höre ich immer noch den Ausspruch meiner Großmutter: "Stunden der Not vergiss, doch was sie dich lehrten, das vergiss nie!" Erst unlängst fand ich, dass dieses Zitat von Salomon Geßner (1730-1788) stammt.

Bis heute kann ich keine Lebensmittel wegwerfen und esse gern ein Brötchen nur mit Salz und Butter. Das erinnert mich an diese schwere Zeit, als es pro Person und Monat drei Brötchen gab, die wir gemeinsam einmal im Monat aßen. Das war für uns ein Festessen.

Gerade als sich unser Leben wieder zu normalisieren begann, starb meine Mutter im Januar 1946. Überall haben mein kleiner Bruder und ich meine Mutter gesucht. Meine Mutter wurde jeden Tag in unser Abendgebet einbezogen. Unser Vater sagte immer: "Die Mutti ist jetzt ein Engel im Himmel, sie schaut auf euch herab und achtet darauf, dass euch nichts passiert." Meine Mutter war eine begeisterte Klavierspielerin gewesen. Sie las uns vor und sang mit uns jeden Abend. Das Abendlied von Brahms "Guten Abend, gute Nacht" hat sich bei mir so eingeprägt, dass es bis heute mein Lieblingslied geblieben ist.

Dann sorgte meine Großmutter weiter für uns. Sie übernahm den Haushalt und auch sie erzählte uns viele Geschichten. Sie hatte sehr viel über Island und Grönland, über Indien, aber auch über das Matterhorn gelesen. Davon erzählte sie uns und erweckte in uns die Liebe zu diesen Ländern. Daran erinnere ich mich gern. Aber auch dieses Glück ging sehr schnell vorbei. Die Großmutter bekam im gleichen Jahr - im Oktober 1946 und mit 59 Jahren - einen Schlaganfall. Sie blieb linksseitig gelähmt. Das brachte unser Leben total durcheinander. Damals gab es noch keine Altenheime, keine Pflegedienste, sie kam auch in kein Krankenhaus. Die Familie musste sehen, wie sie damit fertig wurde. Die Verwandten halfen zwar, so gut sie konnten, aber auch ihnen wurde es zu viel. Unser Vater suchte nach einer neuen Frau. Das war das Naheliegendste, jedoch nicht so einfach. Er war ein fescher Mann, da kamen schon Damen und zeigten ihr Interesse. Sie hätten auch zur Not noch uns Kinder genommen, aber nicht die kranke Großmutter. Mein Vater heiratete dann eine Jugendfreundin. Sie wurde unsere zweite Mutter. Sie war eine sehr fleißige und umsichtige Frau, die uns gut behütet und aufgezogen hat.

Ein Vermächtnis meiner Mutter war, dass ich Klavier spielen lernen sollte, wenigstens einer in der Familie sollte es fortsetzen. Ich ging dann zu Fräulein Hoffmann in die Sophienstraße 33 zum Klavierunterricht, das war eine ganz strenge Klavierlehrerin aus der alten Zeit. Wenn ich zu ihr kam, musste ich zuerst "Guten Tag Fräulein Hoffmann." sagen, dann kam von ihr die Frage: "Hast du gelernt?" Sie hatte einen Rohrstock und es gab etwas auf die Finger, wenn irgendetwas nicht zu ihrer Zufriedenheit verlief. Ich war aber etwas faul, übte nicht die geforderten zwei Stunden, sondern spielte lieber mit den anderen Kindern in den Ruinen, das war spannender. Ein Jahr habe ich bei ihr ausgehalten, aber dieser Unterricht kostete viel Geld. Mein Vater musste Fräulein Hofmann 20 Mark im Monat bezahlen. Meine Großmutter bekam 30 Mark Rente. Es war also ein großes Opfer und hat leider bei mir nicht gefruchtet. Diese Niederlage hat mich aber auch geprägt. Ich sagte mir immer wieder: "Das passiert dir nicht noch einmal."

Mein Vater war Schlosser von Beruf, musste jedoch nach dem Krieg - wie so viele Männer - auf dem Bau arbeiten und in den Ruinen unter anderem auch Heizkörper abbauen, die dann als Reparationsleistungen an die Russen gingen. Das war eine schwere und gefährliche Arbeit. Wir hatten oft Angst um meinen Vater, wenn wir sahen, wie er hoch oben in den Ruinen herumklettern musste.

Ein für mich besonderes Ereignis war meine Konfirmation.
Sie fand am 9. Mai 1954 im Gemeindehaus der St. Marienkirche in der Priestergasse statt. Das steht ja heute nicht mehr, es wurde abgerissen, als gegenüber die Parteischule gebaut wurde. Einige Wochen vor der Konfirmation legten wir vor der Religionslehrerin und dem Pfarrer eine Prüfung ab, in der wir beweisen mussten, dass wir einigermaßen bibelfest waren - wir mussten auch das "Vater unser", das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote aufsagen und erläutern können. Die Prüfung fand in Gruppen statt. Dafür haben wir tüchtig gelernt, keiner wollte durchfallen. Das hätte an der Familienehre gerüttelt. Mein Mann ist das erste Mal durchgefallen. Aber er ist der Meinung, dass es nicht am Wissen lag, sondern weil sie als Kinder häufig den nicht sehr beliebten Pfarrer Bahr ärgerten. So hatten sie das Boot des Pfarrers im Kliestower See versenkt. Aber die Prüfung wurde wiederholt und auch mein Mann wurde konfirmiert.

Auch die Kleidung war damals wichtig. Mit einem Bezugsschein konnte man Stoff kaufen und jemand aus der Verwandtschaft nähte ein Kleid. Es gab aber nur wenig Auswahl. Mein Prüfungskleid hatte eine rote Farbe, mein Konfirmationskleid war tief dunkelblau. Meine Tante Martha hatte es genäht und mit einer kleinen Stickerei versehen. Das war ihr Konfirmationsgeschenk für mich. Die Strümpfe dazu waren tief dunkelblau. Sie hatte meine Patentante aus Westberlin besorgt, sie kosteten 30 Mark. Das war sehr viel Geld. Man muss bedenken: 250 bis 300 Mark verdiente man damals nur im Schnitt. Die schwarzen Schuhe brachte mein Onkel Hans aus Rheinland-Pfalz mit. Er kam mit dem Zug hierher, beim Aussteigen hatte er jedoch den Karton mit den Schuhen im Zug vergessen. Er fragte zwar beim Bahnhof nach, aber die Schuhe waren dort nicht abgegeben worden. Da war ich sehr traurig, denn in Frankfurt gab es solche schönen schwarzen Schuhe nicht zu kaufen. Meine Eltern - vor allem mein Vater - blieben aber optimistisch und einige Tage später erhielten wir eine Nachricht, dass die Schuhe im Fundbüro abzuholen wären.

Das wertvollste Geschenk zur Konfirmation war jedoch die goldene Armbanduhr meiner Mutter, die sie immer trug und vor den Russen bis zuletzt verstecken und retten konnte. Sie hatte die Uhr irgendwo in ihren Kleidern eingenäht, die Russen fanden sie nicht. Ich kann mich erinnern, wie wir auf der Autobahn mit dem Handwagen von Berlin nach Frankfurt (Oder) drei Tage lang unterwegs waren und uns ständig Russen begegneten, die alles von uns haben wollten. Sie schrien uns an: "Uhri, Uhri!" und "peng, peng!" Sie drohten, uns zu erschießen, wenn wir ihnen nicht alles freiwillig gaben. So nahmen sie meinem Großvater die Uhr weg, die er nicht herausgeben wollte, weil sie ein alter Familienbesitz war. Die Russen nahmen auch seine Geige mit. Hätte er es nicht freiwillig gegeben, dann hätten sie uns erschossen. Gott sei Dank passierte uns nichts, auch als wir in den Wäldern übernachteten. Wir kamen gut in Frankfurt an.

Die Uhr meiner Mutter hatte mein Vater für mich aufgehoben. Leider habe ich diese Uhr nie richtig geachtet. Als ich 17 Jahre alt war, ging sie irgendwie verloren.

Es gab auch zur Konfirmation eine Familienfeier, an die ich mich gut erinnern kann. Dazu gehörte das Essen. Es sollte einen großen Karpfen geben. Er wartete seit einer Woche in unserer mit viel Wasser gefüllten Badewanne darauf, geschlachtet zu werden. Meine Mutter meinte, dass der Fisch nach diesem Wässern besser schmecken würde. Ich sehe noch immer sein großes nach Luft schnappendes Maul und wie er seine Runden in der Wanne drehte. Als seine letzte Stunde geschlagen hatte, brauchte mein Vater all seine Kraft, um diesen Karpfen zu töten. Er setzte schließlich eine Zinkbadewanne über den Karpfen. Der Kampf endete damit, dass mein Bruder in die Badewanne flog, als er auf der Badewanne saß und den Kampf beobachtete.

Nach dem reichen Mittagessen kam meine liebe Tante Marie zum Kaffee, die mit ihrem acht Kilo schweren Kater in der Käthe-Kollwitz-Straße lebte. Weil der nicht so viele Stunden allein bleiben konnte, musste mein Cousin den Kater in einer großen Kiste zu uns holen. Der Kater hatte sich dann auf einer Kommode gemütlich eingerichtet. Aber als wir alle an der feierlichen Kaffeetafel Platz nehmen wollten, setzte er plötzlich zum Sprung an und landete auf dem Tisch in der Buttercremetorte, begleitet von einem Schwall grauer Katzenhaare. Meine Oma hatte ihn wohl mit ihrem Krückstock erschreckt. Ein paar Tassen gingen zu Bruch, die schöne Buttercremetorte, die der Höhepunkt der Festtafel sein sollte, war nicht mehr genießbar. Alle schrien, aber meine Mutter schaffte schnell Ordnung, stellte den Streusel- und Obstkuchen auf den Tisch und reichte Malzkaffee und Butter dazu. Es schmeckte allen gut. Die Feier ging weiter. Anschließend spielte mein Onkel Erich auf der Zither und wir sangen dazu. Nach einigen Gläsern Kirschwein waren wir alle sehr lustig und beschwingt. Es war eine schöne Konfirmationsfeier, an die ich gern zurückdenke. Da ich gern schreibe, habe ich auch über die Konfirmation meines Vaters und meiner Enkelkinder alles aufgeschrieben, was ich wusste - es wurde ein Zyklus über drei Generationen. In jeder Generation wurde die Konfirmation anders gefeiert. Mein Konfirmationsspruch war: "Glaube an den Herrn Jesu Christi, so wirst du und dein Haus selig." An die Predigt kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber dieser Spruch hat mich ein Leben lang unbewusst begleitet.

Schulabschluss und Lehre
Ich schloss nach der 8. Klasse die Schule ab. Damals gab es noch keine 10-Klassen-Mittelschule, nur die Erweiterte Oberschule, die mit dem Abitur beendete wurde. Da meine Mutti einen kaufmännischen Beruf erlernt hatte, lag es nahe, auch so einen Beruf zu ergreifen. Ich bewarb mich 1954 bei der Deutschen Notenbank. Bevor wir angenommen wurden, mussten wir eine Prüfung ablegen. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Wir mussten ein Diktat schreiben, Rechenaufgaben lösen und frei sprechen - heute würden wir sagen, wir mussten uns präsentieren. Wir waren 49 Bewerber, aber sieben Lehrlinge wurden nur genommen. Die dreijährige Ausbildung war gut und sehr umfangreich, eine erstklassige Ausbildung, sowohl in fachlicher, praktischer als auch aus theoretischer Sicht. Jeder Lehrling erhielt auch einen Paten, der uns neben der fachlichen und theoretischen Ausbildung persönlich begleitete. Das waren Leiter oder befähigte Mitarbeiter, die uns auch in unserer Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflussten.

Ich habe gern und viel gelernt, wollte die Lehre gut beenden. Das war für mich eine große Herausforderung. Mein Leitsatz war es immer, neue Ziele zu verfolgen, nicht zu resignieren, immer nach vorne zu schauen. Ein Vierteljahr lang mussten alle Lehrlinge der Deutschen Notenbank - es waren etwa 400 - an einem Bankenlehrgang in Bansin teilnehmen, in einem Ferienheim auf der Insel Usedom. Dort wurde uns unheimlich viel Theorie vermittelt. Dort habe ich gelernt, wie man konzeptionell arbeitet. Ich bin ein Mensch, der sich auf das Wesentliche konzentriert und unbedingt einen Termin einhält, den er übernimmt. Das war der Leitfaden, den wir übermittelt bekamen. Sogar die Präsidentin der Notenbank Greta Kuckhoff kam uns besuchen, das war schon etwas Besonderes. Sie war eine sehr bekannte Persönlichkeit, ihr Mann hatte zur Hitlerzeit Widerstand geleistet.

Als ich 1957 die Ausbildung mit gutem Ergebnis abschloss, war ich 17 Jahre alt. Eines Tages - im Januar 1958 - kam mein Direktor zu mir und sagte: "Wir möchten dich zur Fachgebietsleiterin in der Verrechnungsabteilung machen. Wir setzen in dich Vertrauen und bieten dir diese Stelle an." Fordern und Fördern, das war sein Leitfaden, das motivierte mich sehr. Ich nahm diese große Herausforderung an. Es war ein Kollektiv von 25 Frauen im Alter von 17 bis 65 Jahren. Viele hatten schon jahrelang in der Abteilung gearbeitet und waren fachlich sehr gut. Man sagte: "Die ist ja noch so jung! Kann sie denn da schon eine Abteilung leiten?" Es wurde mir anfangs jemanden zur Seite gestellt, der mich mit Rat und Tat unterstützte. Aber trotzdem war es nicht einfach, es war ein steiniger Weg. Aber ich wollte es schaffen. Wir konnten damals den Tag nicht beenden, wenn es eine Verrechnungsdifferenz gab. Soll und Haben - alle Beträge - mussten abends stimmen. Ich kann mich erinnern, dass wir einmal am Silvesterabend bis um 23.00 Uhr saßen und rechneten. Da war ich so ziemlich am Ende meiner Kräfte und mein Direktor schickte mich zur Erholungskur.

Nach vier Jahren entschied ich mich, in der Bezirksdirektion in der Bank ein neues Aufgabenfeld zu übernehmen. Ich wollte zielstrebig meinen Weg weitergehen und die an mich gestellten Aufgaben meistern. Das tat ich mit Neugier, Begeisterungsfähigkeit, Disziplin und einem starken Willen.

Und es ging noch weiter, ich entschloss mich, zu studieren. Dazu musste ich ein Jahr lang sonnabends einen Vorbereitungskurs absolvieren. Da ich dort durch gute Leistungen und eine schnelle Auffassungsgabe auffiel, machte mir der Direktor der Volkshochschule den Vorschlag, das Abitur in zwei Jahren abzulegen, obwohl ich weder die 9. noch die 10. Klasse besucht hatte. Es war ein Experiment. So kam ich gleich in die 11. Klasse und 1963 hatte ich das Abitur in der Tasche. Dazu ging ich dreimal in der Woche von 17.30 Uhr bis 21.30 Uhr zur Volkshochschule zum Unterricht. Parallel dazu begann ich 1961 ein Fachschulstudium an der Fachschule für Finanzwirtschaft in Gotha, das ich 1965 als Finanzökonom abschloss. Es war sehr hart, aber aufgeben kam für mich nicht in Frage.

Die Mauer in Berlin
In der Zwischenzeit wurde am 13. August 1961 die Mauer gebaut und auch meine Familie war davon betroffen. Mein Onkel Kurt wohnte mit seiner Familie in der Bernauer Straße in Berlin. Das Haus stand im Osten, dort war auch der Hauseingang. Der Bürgersteig lag bereits im Westteil. Aus allen Fenstern schaute man in den Westen. Die Mauer wurde direkt vor ihren Fenstern errichtet. Da mein Onkel immer schon im Westteil beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt war, verlor er seinen Arbeitsplatz. Er fand eine neue Arbeit im Ostteil, war aber als Grenzgänger vielen Schikanen ausgesetzt. Mein Onkel hat dann im Oktober 1961 seine Frau und seine 82jährige Schwiegermutter aus dem ersten Stock abgeseilt und sprang dann selbst auf ein unten ausgebreitetes Sprungtuch. Das war zu der Zeit noch möglich, wenn auch unter diesen abenteuerliche Umständen. Mein Onkel Fritz arbeitete auch im Westteil, wohnte aber im Ostteil. Am 13. August wollte er mit seiner Familie zur Mutter in den Westen. Mein Onkel und sein Sohn schafften die Flucht über den Stacheldraht, aber meine Tante stand wie eine Eissäule vor den Grenzern und ging zurück. Dann versuchte der Onkel, die Tante durch einen Tunnel in den Westen zu schleusen. Aber diesen hatte die Stasi unter Kontrolle, die Tante wurde auf der Straße festgenommen, in ein Auto gezerrt und zu zwei Jahren Knast verurteilt. Nach zwei Jahren kam sie wieder frei und konnte zu ihrer Familie in den Westen gehen.

Mein Bruder
Ein sehr trauriges Erlebnis gab es noch in unserer Familie, das mich bis heute nicht loslässt. 1963 traf uns der Suizid meines Bruders - wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nichts deutete bei unserem letzten Treffen darauf hin, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Und doch stelle ich mir seit vielen Jahren die Frage, ob ich etwas übersehen habe, ob es einen Moment gab, wo ich als seine Schwester noch etwas hätte verhindern können. Ich sehe noch heute einen wissbegierigen, intelligenten, musikalischen und literarisch hochbegabten jungen Mann vor mir, der mit seiner Gitarre 1960 in den Westen ging, um der Enge in der DDR zu entfliehen - auf der Suche nach dem Sinn und der Tür des Lebens. Kritisch diese für ihn neue Welt betrachtend, fand er sich in der ersten Reihe des Ostermarsches wieder, um gegen die Aufrüstung und das grassierende Konsumdenken zu demonstrieren. Seine Gitarrenmusik klang aus dem Lautsprecher. Doch auch hier fand er nicht das, wonach er suchte. 1963 kehrte er desillusioniert nach Frankfurt (Oder) zurück und sagte mir bei unserem letzten Gespräch, dass ihm das Leben sinnlos erschien - unser letztes Gespräch und ich hörte nicht richtig zu. Und so fuhr er in den Urlaub, auch da redete er offen über seine Absichten. Wieder hörte ihm niemand zu oder nahm ihn nicht ernst. Er wurde nur 22 Jahre alt. Er spielte auch in der Jugendband "Amorada" hier in Frankfurt (Oder), war Gitarrist und Sänger. Er war sehr begabt und hat sich alles selbst beigebracht. - Ich hatte Klavierunterricht und machte nicht weiter. Für meinen Vater war sein Tod ein besonders schwerer Schlag. Davon haben wir uns als Familie nie erholt. Nach der Beerdigung wurde über dieses Thema in unserer Familie nie gesprochen. Warum, weiß ich nicht, sicher blieb die Frage, ob wir seinen Tod hätten verhindern können. Aber wir mussten nach vorn schauen. Ich war mitten im Studium und wollte es gut beenden.

Familie und Studium
1966 habe ich geheiratet. Mein Mann kam auch aus Frankfurt (Oder) und studierte damals Schwermaschinenbau. Nach dem Studium arbeitete er im Lauchhammerwerk, wo Bagger und dergleichen hergestellt wurden. 1968 kam er nach Frankfurt zurück und wir übernahmen das Haus meiner Schwiegermutter. Die Großeltern meines Mannes gehörten zu der Generation, die nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Versailler Vertrag ihre Heimat verlassen mussten, als Polen ehemals deutsche Gebiete zugesprochen wurden. Die dort lebenden Deutschen konnten entweder für Polen optieren oder nach Deutschland ziehen. Die Großeltern mussten ihre Heimat verlassen, weil der Großvater nicht wollte, dass seine beiden Söhne polnische Soldaten wurden. So kamen sie mit ihren Kindern 1922 nach Frankfurt (Oder) und lebten zunächst im Barackenlager in der Heimkehrersiedlung - unter katastrophalen Bedingungen. Mehrere Familien mussten sich einen Raum teilen. Da gab es keine Intimsphäre. Mit fünf Kindern bewohnten sie einen großen Raum, der nur durch Decken von einer anderen achtköpfigen Familie getrennt war. 1925 hatten sie dann die Möglichkeit, im Dornenweg - auch in der Heimkehrersiedlung - ein Haus zu bauen. Dafür gab es günstige Kredite.

1966 übernahmen wir dann dieses Haus und richteten uns so nach und nach dort ein. 1971 wurde unsere Tochter geboren. Das war mein größtes Glück, aber auch eine neue Situation, auf die ich mich einstellen musste. Man bekam damals in der DDR als Mutter sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen nach der Geburt Mutterschaftsurlaub. Entweder man ging dann wieder arbeiten oder blieb zu Hause, musste sehen, wie man ohne Geld zurechtkam. Da meine Tochter zwei Wochen zu früh kam, konnte ich nach der Geburt zehn Wochen zu Hause bleiben. Man konnte zwar gleich wieder arbeiten gehen, aber es gab damals noch viel zu wenige Krippenplätze. Die für uns in Frage kommende Krippe war im alten Gutshaus in Kliestow - es waren hohe Räume, die mit Kachelöfen schwer zu beheizen waren. Dorthin ging meine Tochter schon als 10 Wochen altes Baby. Das ist heute unvorstellbar. Sie war die erste in der Krippe um 6 Uhr früh, die letzte nach sechs Uhr abends. Als sie vier Monate alt war, nahm ich meine Tochter das erste Mal mit zur Weiterbildung, die ich mehrmals in Ladeburg im Kreis Bernau, jeweils für eine Woche absolvierte. Dort gab es eine Tageskrippe, in der sich meine kleine Tochter wohlfühlte. Es hat ihr nicht geschadet. Sie ist ein ganz toller Mensch geworden.

1972 habe ich an der Humboldt Universität noch ein fünfjähriges Fernstudium aufgenommen und Wirtschaftswissenschaften studiert. Einmal im Monat war ich eine Woche in Berlin. Dabei sind wir großzügig vom Betrieb unterstützt worden. Für meine Diplomarbeit wurde ich vom Betrieb vier Wochen freigestellt. Es hätte jedoch alles nicht geklappt, wenn mein Mann da nicht so sehr miteingebunden gewesen wäre. In der Bank erhielt ich dann eine stellvertretende Leitungsfunktion.

Aber ab 1977 wurden mit mir kontinuierlich Gespräche geführt, weil ich Westkontakte hatte. Meine Schwiegermutter war 1977 zu ihrer Tochter in den Westen gezogen. Diese, meine Westverwandtschaft, kam natürlich des Öfteren zu Besuch. Jeder Besuch musste genehmigt werden. Jede Postkarte, jeden Brief musste ich der Kaderabteilung melden. Das habe ich nicht immer ernst genommen. Mir wurde auch nahe gelegt, diese Kontakte zu unterbrechen. Aber das ging nicht, es war ja die Mutter meines Mannes.

Ich hätte mich nach der Wende nie um Einsicht in meine Stasi-Akte bemüht, aber ich erhoffte mir davon, etwas über meinen Bruder zu erfahren. So las ich, dass ich 1980 ein Jahr lang beobachtet wurde, über mich wurden Informationen eingeholt. Man wollte wissen, ob bei mir Hinweise auf Straftaten vorlagen. Es konnte mir zwar nichts nachgewiesen werden, aber ich sollte von meiner Leitungsfunktionen abgelöst werden. Dazu ist es aber nicht gekommen.

Zu meinem Leben in der DDR gehört auch, dass ich Parteimitglied war, von 1970 bis zum Oktober 1989 war ich in der SED. Wenn man sich in der DDR - so wie ich in der Bank - entwickeln wollte, wurde das vorausgesetzt. Ich bin mit Idealen eingetreten, die sich dann nicht realisierten. In meiner Stasi-Akte las ich, dass ich immer sehr kritisch gewesen wäre. Auch das gehört zu meiner Biografie.

Ich bereue es nicht, in der DDR gelebt zu haben. Ich war glücklich in der DDR, obwohl ich vielem sehr kritisch gegenüber stand und vieles vermisste. So liebte ich die Berge, wäre sehr gern einmal in die Schweiz gefahren. Unsere Hochzeitsreise ging in die Hohe Tatra. Das waren für mich die Mini-Alpen. Mit dem Rucksack sind wir von Baude zu Baude gezogen, schliefen in Massenquartieren. Aber auch das war schön.

Die Ereignisse im Oktober 1989
interessierten mich natürlich sehr. Am 18. Oktober nahm ich am Treffen teil, dass vom Neuen Forum in der Georgenkirche organisiert wurde, wo es ja hart zuging. Bei der darauf folgenden öffentlichen Diskussionsrunde im Kulturhaus Völkerfreundschaft leistete ich auch einen Diskussionsbeitrag und sprach mich für die Anerkennung des Neuen Forums aus. Dieser wurde im Radio übertragen. Für diesen Beitrag musste ich mich am nächsten Tag vor allem bei meinen Mitarbeitern rechtfertigen. Ich arbeitete dann im Neuen Forum mit. Dann wurde die Deutsche Forum Partei gegründet. Das war eine Abspaltung vom Neuen Forum, die in die westdeutsche FDP einging und ich war als Delegierte beim Vereinigungsparteitag in Hannover mit dabei. Da konnte ich mich mit Genscher und Möllemann unterhalten. Es war alles sehr interessant, aber es hat mich schon damals abgestoßen, wie die Posten so verteilt wurden. Deshalb machte ich da nicht mehr länger mit.

Die Wende hatte natürlich auch auf meine Arbeit großen Einfluss. Bisher stand im Mittelpunkt unserer Arbeit der Volkswirtschaftsplan, aber nun griff von einem Tag auf den anderen die Marktwirtschaft um sich. Auch wir als Bank mussten uns völlig umstellen und anpassen. Es ergab sich eine ganz andere Arbeitsweise, völlig andere Techniken waren gefragt. Ich persönlich war ein halbes Jahr lang in Biberach bei Ulm zur Fortbildung. Das war für mich eine Bereicherung.

Dann kam für mich das "Aus" in der Bank. Man verabschiedete sich von den älteren Mitarbeitern. Ich war 55 Jahre alt und gehörte auch mit dazu. Es gab aber in dieser Zeit noch viele Bildungsangebote, die Akademie "Zweite Lebenshälfte" und andere Qualifizierungsmöglichkeiten. Ich erhielt die Möglichkeit, an einer Zusatzqualifizierung für Hochschülerinnen teilzunehmen. Im Rahmen dieser Ausbildung konnte ich auch ein Praktikum an der Universität machen. Diese Verbindung und die Liebe zur Universität sind bis heute geblieben.

Meine Tochter wollte Bauwirtschaft studieren, nachdem sie eine Berufsausbildung mit Abitur gemacht hatte. Sie hatte schon ihren Studienplatz für Bauwesen in Leipzig, aber dann bekam sie 1991 Zwillinge. Da waren wir als Großeltern gefragt. Das alles war für uns neben der Arbeit nicht so einfach. 1999 zog meine Tochter dann mit ihrer Familie nach Süddeutschland.

Aktivitäten nach dem Berufsleben
Im Jahr 2000 wurde ich Rentnerin, mein Mann ging ein Jahr später in Rente. Da hatten wir beide viel Zeit und konnten gemeinsam viele kulturelle Angebote nutzen: das Kleist Museum, die Urania, die Universität und vor allem die Konzerte unseres Staatsorchesters.

Ich wurde auch Mitglied im Förderverein der Heilandskapelle, der 2001 gegründet wurde. Dort bin ich Schatzmeisterin. Diese Kapelle wurde ja im Ersten Weltkrieg von den russischen Kriegsgefangenen erbaut. Verschiedene Religionen konnten dort ihren Gottesdienst halten. Aber so nach und nach verfiel die Kapelle und wir bemühten uns, um ihren Erhalt. Der Glockenturm ist bereits renoviert. Jetzt haben wir von der Reemtsma-Stiftung, von der Deutschen Denkmalstiftung und auch von der Kirche Geld bekommen und die eine Hälfte der Kirche kann ab Juni 2013 renoviert werden. Wir hoffen, dass wir für die andere Hälfte noch Geld bekommen. Bis zum Sommer haben wir noch viele schöne Veranstaltungen geplant. So wird auch Howard Griffiths auftreten.

2005 verkauften wir unser Haus in der Heimkehrer Siedlung. Wieder hieß es, sich neu zu orientieren, was für mich zunächst sehr schwer war. Wir hatten das Glück, eine schöne Wohnung in der Fischerstraße zu bekommen. Dort haben wir zwei Balkone mit einem schönen Blick auf die Insel Ziegenwerder bis nach Polen. Es ist wieder ein Neuanfang und wurde mein neues Paradies.

Ich bin ein Mensch, der sich gern neuen Situationen stellt. Ich bin optimistisch und sehe immer das Gute in den Menschen.

Ich habe mich auch bei der Aktion "offene Kirche" in der Gertraudenkirche engagiert und dort auch Führungen übernommen.

Beim Arbeitslosentreff in Neuberesinchen organisierte ich ca. zwei Jahre lang das Arbeitslosenfrühstück. Darüber hinaus habe ich vor etwa zwei Jahren den Kulturtreff im Grünen Salon ins Leben rufen. Jeden Monat treffen wir uns zu einem kulturellen Nachmittag, in dessen Mittelpunkt Politiker, Komponisten, Schriftsteller oder Maler stehen. Das kostet viel Kraft, es muss alles gut vorbereitet werden, denn wir gestalten diese Nachmittage auch inhaltlich selbst. Der Eintritt ist frei, aber es gibt Kaffee und Kuchen. Dadurch tue ich auch etwas für mich, ich muss mich intensiv mit diesen Themen befassen und kann so mein Wissen ständig erweitern. Ich freue mich aber vor allem, dass ich etwas weitergeben kann, dass dieser Kulturtreff so gut angenommen wird und sich so gut entwickelt hat. Manchmal kommen 30 bis 40 Leute. Ich freue mich, wenn ich anderen Menschen eine Freude bereiten kann.

Das Leben gleicht einem Weg - mal eben und gerade, dann wieder mit Steinen übersät und kurvig. Und doch führt der Weg zu einem Ziel. Ich habe versucht, mit den Zielen, die ich mich forderten und förderten, meinen Lebensweg zu meistern. Das tat ich mit Neugier, Begeisterungsfähigkeit, Disziplin und starkem Willen. So kann ich heute sagen, dass ich ein glücklicher und zufriedener Mensch bin, der das Leben als großes Geschenk ansieht.

Beenden möchte ich die Reise durch mein Leben mit einem Vers von Dietrich Bonhoeffer:

"Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag."

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.