Mark Perelman

Mark Perelman

Ich hatte viele Treffen mit Schülern in Deutschland. In einem Seelower Gymnasium kam ein 14-jähriger Junge auf mich zu und stellte mir zwei Fragen: "Wie konnten Sie als Jude am Ende Ihres Lebens nach Deutschland kommen?" und "Wie können Sie, nach all dem, was Sie als Jude erlebt haben, noch an Gott glauben?" Dieser Junge wusste nicht, dass das die zwei wichtigsten Fragen sind, die ich mir selbst in meinem Leben stelle.

Meine früheste Erinnerung, die in meinem Gedächtnis verankert ist, ist kein Bild, sondern ein Gefühl - das Gefühl des Unglücks. Dieses Gefühl hat aber dennoch eine plastische Kulisse: dichter, brauner Nebel und eine Stimme aus dem Rundfunk, die verkündet, dass Kirov  getötet wurde - einer von unseren geliebten Anführern, ein treuer Gefährte Stalins, er war einem Attentat zum Opfer gefallen. Heute weiß ich, dass es der 1. oder 2. Dezember 1934 war. Ich war damals dreieinhalb Jahre alt, ich bin am 12.04.1931 geboren.

Es stellt sich die Frage: Warum erinnert sich ein kleines Kind so detailliert an solch ein Ereignis?

Meine beiden Eltern waren Juden und wohnten in Gomel/Ostweißrussland im ehemaligen Polen. Sie waren 1901 und 1902 geboren. Mein Großvater väterlicherseits war Apotheker und der Großvater mütterlicherseits Schlosser. Meine Großmütter waren Hausfrauen. Nach unserer ethnischen Herkunft bezeichneten wir uns als "Juden", waren aber gleichzeitig sowjetische Staatsbürger. Ich erinnere mich an Verwandte, die nicht religiös waren und auch keine orthodoxen, jüdischen Traditionen pflegten. Sie sprachen jiddisch, aber auch perfekt russisch. Wir aßen Kartoffelpuffer, aber nicht als traditionelles Gericht zum Chanukka Fest und auch Brötchen mit Mohn nicht zum Purim Fest, sondern als schmackhaftes Backwerk, wie z. B. Strudel. Die traditionelle jüdische Matze habe ich nur ein einziges Mal mit meiner Großtante unter fast konspirativen Umständen gekauft. Meine Eltern wurden bereits in ihrer Jugend durch die Sowjetunion geprägt. Dank den Veränderungen nach der Revolution gehörten sie zu den ersten Akademikern. Sie haben beide Medizin studiert. Das hat ihnen das sowjetische System ermöglicht. Mein Vater ist im Jahre 1949 Mitglied der Kommunistischen Partei geworden, meine Mutter war parteilos. Aber ihre politischen Anschauungen waren sehr klar.

Im Deutschen ist das Wort "Progromnacht" bekannt, aber das Wort kommt vom russischen "Progrom" und heißt übersetzt Zerstörung, Verwüstung, Krawall. Das hat meine Mutter als Kind erlebt und ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Ihr innigster Wunsch war es, ihr erstes Kind am dem Ort der Wiege der Oktoberrevolution zu gebären. So fuhr sie nach Leningrad zu ihren Geschwistern und kehrte dann nach der Geburt mit mir nach Gomel zurück. Dort verbrachte ich meine Kindheit.

Ich bin in der Atmosphäre der Achtung und Anerkennung des sowjetischen Kommunismus aufgewachsen. Ich kann mich nicht erinnern, was ich zuerst als Kind erzählt bekommen habe: die Märchen der Gebrüder Grimm oder die Meinungen von Marx, Engels und Thälmann. In unserer Wohnung hingen an der Wand Postkarten mit den Abbildungen sowjetischer Führer wie Lenin und Stalin, aber auch von anderen Persönlichkeiten wie Marx und Engels. Seit dem spanischen Bürgerkrieg waren mir auch die Namen der ausländischen, darunter der deutschen Antifaschisten bekannt. Als Kind las ich Geschichten über das Leben der jungen Antifaschisten in Deutschland. Das eine Buch hieß "Heinrich beginnt seinen Kampf" und das zweite "Karl Brunner". In meinem Kopf existierte ein geteiltes Bild der Deutschen: Es gab die guten Deutschen, die "Antifaschisten", und es gab die bösen Deutschen, die "Faschisten".

Der Krieg kam still und unmerklich in unsere Familie. Unsere Familie war kein besonders tragischer Fall, aber alle waren unruhig. Vater las jeden Abend nach der Arbeit und wurde sehr ernst. In meiner "Bildsammlung" waren auch Postkarten der Feldherren. Einmal sagte meine Mutter zu mir, ich solle die Karte von Marschall Tuchatschewski herauswerfen. Aber ich fand ihn schön - so mit seinen vielen Orden behängt - und habe es nicht gemacht. Ich habe diese Karte zwar abgenommen, aber zwischen eine Ofenziegel in der Küche versteckt. Natürlich wusste ich nicht, wie gefährlich das für meine Eltern war. Zum Glück hat diese Karte niemand gefunden und alles ist im August 1942 verbrannt.  Das erste Mal, dass ich mir des Krieges bewusst wurde, war an einem Tag Anfang September 1939. Ich saß mit meinem Schulkollegen in unserer Wohnung. Plötzlich kam mein Vater auf mich zu und küsste mich. Dann schwieg er eine Weile und sagte nur "Ich wünsche dir alles Gute" und verschwand. Einige Tage später hörten wir aus dem Radio, dass die Sowjetunion einen Befreiungsfeldzug in der Westukraine und in Westweißrussland begonnen hatte. Nach einigen Wochen bekamen wir einen Brief von meinem Vater, in dem er beschrieb, dass er als Militärarzt, Major der Roten Armee, ein Feldlazarett in der Stadt Lida in Westweißrussland leite. Als er nach ein paar Monaten zu einem kurzen Besuch nach Hause kam, brachte er mir ein sehr wertvolles Geschenk mit - eine spitze Militärmütze, genannt "Budjonowka". Auf diese Mütze war ich sehr stolz.

Vater blieb mehr als 30 Jahre lang - bis zu seinem Ruhestand - Militärarzt.

Der "Befreiungsfeldzug" der Roten Armee 1939 kann natürlich sehr unterschiedlich bewertet werden. Ich habe aber eine persönliche Erinnerung an diese Zeit. In Vilnius, der Stadt in Litauen, welche vor der Revolution zum Russischen Reich und vor dem Zweiten Weltkrieg zum polnischen Staat gehörte, lebten meine Verwandten väterlicherseits. Wir hatten zu ihnen praktisch keinen Kontakt, bekamen aber Ende 1939 von ihnen einen Brief. Ein Satz darin ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: "Die Roten Engel sind gekommen und haben uns gerettet". An diesen Satz denke ich noch sehr oft.

Ich ging zur Schule, lernte fleißig, lernte auch Geige spielen und baute Modellflugzeuge im Pionierpalast. Am 23.06.1941 bombardierten die deutschen Flugzeuge unsere Stadt Gomel.

Wie ich bereits sagte, war mein Vater Militärarzt, zuerst in der Westukraine, dann im Sowjetisch-Finnischen Krieg.  Am ersten Tag des Krieges wurde auch meine Mutter als Militärärztin einberufen, sodass sie meistens nicht zu Hause übernachten konnte. Meine 4-jährige Schwester und ich waren bei unseren Verwandten. Man konnte sich nicht vorstellen, dass die deutsche Armee bis nach Moskau kommen würde, aber am 28.06.1941 haben unsere Eltern mich, meine Schwester und unsere alte Großtante zum Bahnhof gebracht. Wir sollten nach Leningrad, wo die Familie meiner Mutter wohnte, oder nach Tula, wo die Schwester meines Vaters lebte oder nach Swerdlowsk am Ural, wo die Cousine meiner Mutter zu Hause war. In jedem Fall mussten wir in Richtung Moskau fahren, da es der beste Ausgangspunkt für weiteres Reisen sein konnte.

Als wir am Bahnhof ankamen, herrschte dort pures Chaos. Die Großtante verlor die Orientierung - sie hatte sowieso keine geographischen Kenntnisse. Dazu erschien noch mein Großvater mütterlicherseits, der eine meiner jungen (erst 16 Jahre alten) Tanten mitschicken wollte. Als er das Chaos sah, hat er sich geweigert, seine Tochter mit uns zu schicken. Es stellte sich natürlich die Frage, warum unsere Mutter nicht bei uns sein konnte. Es bestand die Möglichkeit nachzufragen und sich evtl. vom Militärdienst befreien zu lassen, um die eigenen Kinder zu betreuen. Aber meine Mutter hatte ein großes Pflichtbewusstsein: "Wenn jeder seine Kinder beschützen möchte, wer wird sich dann noch um den Rest der Gesellschaft und der Heimat kümmern können?", pflegte sie zu sagen.

Also sind wir drei allein losgefahren. Wir fuhren drei Tage und Nächte. Drei Mal mussten wir den Zug wechseln. Den Rest der Reise verbrachten wir gemeinsam mit Flüchtlingen aus Białystok in einem Güterzug. Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich am frühen Morgen aufwachte und mich wunderte, warum der Zug stand. Die Türen des Waggons waren weit geöffnet, denn es war kaum Luft zum Atmen da. Ich schaute hinaus und fragte einen Eisenbahner, der neben unserem Zug herumlief, wo wir denn seien. Er antwortete: "in Tula!". Ich denke heute: das konnte kein Zufall sein - es muss einen Gott geben, der dafür gesorgt hat! Es war ungewiss, ob und wann wir in Leningrad, Tula oder Swetlowsk ankommen würden, und nun stellte sich heraus, dass wir just in dem Moment, in dem ich aufwachte, in Tula waren.
Wir hatten uns die Adresse unserer Verwandten in Tula aufgeschrieben und fanden auch ohne weiteres zu ihnen. Dort blieben wir bis Mitte September, dann konnte sich unsere Mutter um uns kümmern, denn sie wurde glücklicherweise dem Gorkij-Gebiet  zugeteilt. Unsere Stadt Gomel war zu dem Zeitpunkt schon okkupiert. Zwischen Tula und Gorkij mussten wir in Moskau umsteigen und blieben dort einen Tag. Weil wir nur wenig Sommerkleidung hatten, gingen wir ins Militärwarenhaus, um uns Kleidung zu kaufen. Aber zuerst hat uns unsere Mutter zum Roten Platz geführt - das war ja für die sowjetischen Menschen ein heiliger Ort.

Kurz darauf wurden meine Eltern nach Wiksa, einer Stadt im Gorkij-Gebiet, ins Militärlazarett abkommandiert. Sie nahmen uns mit und wir waren wieder alle zusammen. Dort blieben wir bis zum März 1944. Mein Vater war dort Oberst und Lazarettleiter.

In dieser Zeit machte ich meine ersten Erfahrungen mit dem Antisemitismus. Nicht in Weißrussland, nicht unter den Nazis, sondern im Herzen Russlands, 300 Kilometer östlich von Moskau. Woher die Kinder in der Schule wussten, dass ich jüdischer Herkunft war, kann ich nicht sagen. Aber sie wussten es und "begrüßten" mich mit der Bezeichnung "Schid". Dieses Wort existiert nicht im offiziellen Wortschatz der russischen Sprache, ist aber eine gängige herabwürdigende Bezeichnung für einen Juden (russ. Jewrej). Die Kinder schlugen und hänselten mich. Es war schrecklich, zumal ich der einzige Jude in der Schule war. Ich habe das meinen Eltern verschwiegen. Bis zu ihrem Tod habe ich ihnen nichts über diese Ereignisse erzählt. Ich war ratlos und wusste mich auch nicht zu wehren, denn ich wurde so erzogen, dass man niemanden schlagen darf.

Aber es gab auch andere, positivere, lustige Erinnerungen. So erinnere ich mich, wie meine Schwester aus dem Kindergarten kam und meine Mutter fragte: "Ist unsere Katze auch Jüdin?"

Mit der Zeit lernte ich zurückzuschlagen. Da ich ohnehin nicht der kleinste war, habe ich mir im Laufe der Zeit einen gewissen Respekt erkämpft, auch weil ich sehr gut in der Schule war. Es war mir immer eine wichtige Pflicht, fleißig zu lernen. In der Schule war es üblich, dass die Schüler kleine Geschenke für die Soldaten an der Front anfertigten. Ich bastelte eine kleine Tabaktasche. Meine Mutter hat sie genäht und ich habe darauf den Aufruf gestickt "bud gierojem" ("sei ein Held"). Diese Geschenke wurden dann an die Frontsoldaten geschickt und ich bekam als einziger Schüler einen kurzen Dankesbrief: "Sehr geehrter Genosse! Ich danke Ihnen für das wunderbare Geschenk. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nur ausgezeichnete Noten bekommen! Ihr Rotarmist, N. Odinzow." Ich war unglaublich glücklich!
Die sowjetischen Soldaten nannte man ja oft "Iwan" und die deutschen "Fritz". Natürlich wusste ich, dass Fritz Friedrich bedeutet, aber ich war schockiert, als ich viele Jahre später einen Brief von Karl Marx an Friedrich Engels las, der mit der Anrede "Mein lieber Fritz" begann.

Nach der Beendigung der vierten Klasse, im Sommer 1942 erschien in unserer lokalen Zeitung ein Artikel, in dem geschrieben stand, dass Mark Perelman die beiden Abschlussprüfungen mit Auszeichnung bestanden habe. Das war das erste Mal, dass ich in der Presse erwähnt wurde, und ich hatte somit wiederum einen Grund, stolz zu sein.
In der Schule haben wir nur eine Fremdsprache gelernt: Deutsch. Ich habe aber Deutschland nicht ausschließlich mit Hitler assoziiert. Für mich war das eine Kulturnation, die man achten und verstehen sollte. Selbst Stalin sagte in seiner berühmten Rede vom 7. November 1941: "Die Hitlers kommen und gehen, aber Deutschland und das deutsche Volk bleiben."

In meinen Schuljahren habe ich viel gelesen. Ich las z. B. von Erich Maria Remarque: "Im Westen nichts Neues". Dieser Schriftsteller wurde für mich und auch später für meinen Sohn sehr wichtig. Wir beide haben noch viele seiner Werke gelesen. Auf Deutsch las ich von Lion Feuchtwanger: "Die Geschwister Oppermann".

Im März 1944, als die Ukraine bereits befreit war, wurde das Lazarett, wo meine beiden Eltern arbeiteten, nach Dnepropetrowsk verlegt. Dort habe ich die Mittelschule besucht und sie 1948 mit der goldenen Medaille abgeschlossen. Diese Auszeichnung gab mir die Möglichkeit, mich an jeder Hochschule in der Sowjetunion ohne Aufnahmeprüfung zu bewerben. Ich wusste nicht, dass dies zu meinem Verhängnis werden würde. Mein Traum war es, Nuklearphysik in Leningrad zu studieren. Ich bewarb mich an der Leningrader Polytechnischen Hochschule, bekam aber eine ablehnende Antwort.

Ich fuhr nach Leningrad, um persönlich Einspruch einzulegen. Ich sprach bei der Prüfungskommission vor. Sie konnten mir nicht helfen und ich wandte mich an den Dekan der Technischen Fakultät. Der Dekan war damals der berühmteste sowjetische Physiker, Abram Fjodorowitsch Joffe. Er gab mir zu verstehen, dass ich keinerlei Chancen hätte, an dieser Fakultät immatrikuliert zu werden. Er schlug mir vor, mich für eine andere Fakultät zu entscheiden und später als Aspirant zu ihm zurückzukommen. Danach fuhr ich zurück nach Dnepropetrowsk und schrieb einen Brief an Stalin, indem ich ihn bat, zu bestätigen, dass ich als Jude keine Nuklear-Physik studieren darf. Hätte mir Stalin geantwortet: "Ja, es ist richtig!", dann hätte ich das voll und ganz akzeptiert. Aber ich bekam keine Antwort. Wahrscheinlich wurde dieser Brief von guten Menschen abgefangen.

Dann nahm ich das Studium an der metallurgischen Hochschule in Dnepropetrowsk auf. Meinen Abschluss machte ich 1953 mit Auszeichnung - einige Monate bevor Stalin starb.

Ich arbeitete dann im Metallwerk in Saporoshje, zuerst als Meister, bzw. Stahlkocher, danach als Schichtleiter. Dieses Stahlwerk arbeitete eng mit der Hochschule zusammen, an der ich meinen Abschluss machte. Eines Tages besuchte uns der Professor, bei dem ich meine Diplomarbeit schrieb. Er meinte, ich könnte jetzt wieder an die Hochschule zurückkommen und als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig sein. Da kündigte ich meine Arbeit in Saporoshje und ging zurück nach Dnepropetrowsk. Dort war bereits alles mit dem Professor abgesprochen. Ich sollte in die Aspirantur aufgenommen werden, das entsprach dem deutschen Promotionsstudium. Im letzten Moment aber hat man meine Einstellung verhindert. Der Professor entschuldigte sich vielmals, konnte mir aber nicht weiter helfen.

Ich wurde arbeitslos. Nach vier Monaten fand ich in einem Projektinstitut eine Einstellung als Elektrometallurg. Dort habe ich die nächsten 40 Jahre meines Berufslebens verbracht. Ich begann als einfacher Ingenieur, wurde danach Gruppenleiter und schließlich wurde ich zum Chefingenieur für Projekte und zum "Hauptfachmann" befördert. Erfreulich war, dass seit dem Ende der Siebziger Jahre die Zusammenarbeit mit dem westlichen Ausland möglich wurde. Ich hatte Kontakt zu französischen, japanischen, amerikanischen und deutschen Ingenieuren (z. B. von Mannesmann und Siemens). Aber ich durfte nie eine Dienstreise ins Ausland machen. Die ausländischen Kollegen fragten mich des Öfteren, ob sie mir irgendwie mit Einladungen helfen könnten. Ich antwortete ihnen immer: "Bloß nicht! Das würde meine Lage nur noch verschlimmern!".

Im Jahre 1947 - als ich 16 Jahre alt war - bekam ich meinen ersten Pass, in dem stand: "Nationalität: Schüler - Sozialstand: Jude"! War das ein zufälliger Fehler, oder?

Es ist kaum zu glauben, aber zum damaligen Zeitpunkt habe ich immer noch an den Kommunismus und an die Sowjetunion geglaubt. An allem Übel waren meiner Meinung nach die Menschen Schuld, die Idee an sich fand ich richtig.
Dann begann die Perestroika. Vor unseren Augen ging alles, wofür meine Eltern und wir alle unser Leben geopfert hatten, in die Brüche. Das ganze Hab und Gut des Landes rissen Kriminelle an sich. Ich hatte keine Lust mehr zu arbeiten, auch meine Gesundheit war angeschlagen. Ich ging in Rente. Die Inflation hat diese Rente sofort gefressen. Zuletzt betrug meine Auszahlung 5 Millionen Rubel und beide Renten, meine und die meiner Frau, reichten nur für die Miete und für Arzneien. Am schlimmsten war jedoch das Gefühl der Machtlosigkeit.

1995 entschlossen wir uns, nach Deutschland auszureisen, und stellte einen Antrag an die deutsche Botschaft. Zwei Jahre später wurde er bewilligt. Unsere Beweggründe waren jedoch nicht materieller Natur. Meine Eltern und ich lebten vor 50 Jahren unter viel schlechteren materiellen Bedingungen, glaubten aber dennoch an die Zukunft und hatten auch Perspektiven. Jetzt aber hatten wir keine Illusionen und auch kein Vaterland mehr.

Aber diese Entscheidung war nicht einfach. Ich nahm ein Blatt Papier und teilte es in zwei Hälften: links schrieb ich das Positive und rechts das Negative auf, alles das, was ich über Deutschland sagen konnte. Links stand viel: deutsche Kultur, Wissenschaft, Technik, Kunst. Rechts stand nur ein Wort: "Holocaust". Aber das war ausreichend für den Entschluss, nicht nach Deutschland zu fahren. Und doch bin ich hier! Es war keine Entscheidung mit dem Verstand, aber ein Gefühl oder eine innere Stimme, die uns sagte: "Fahren wir nach Deutschland!" Und als wir nach Frankfurt (Oder) kamen und schon am zweiten Tag vor der Gedenkplatte an die jüdische Synagoge standen, wurde uns klar, dass wir es richtig gemacht hatten. Ich habe hier nur selten wegen meiner jüdischen Herkunft Ablehnung erfahren. Auch unser Familienname Perelman kann ja nur aus Deutschland oder Österreich kommen.

Dass wir jedoch so schnell so viele deutsche Freunde gefunden haben und dass uns so viele Menschen herzlich empfangen haben, hielt ich für wunderbar. Auch was wir bei der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit erlebten, war dafür ein Beispiel. Nach allen Prüfungen und Formalitäten, wurden wir ins Amt eingeladen, um die Urkunden abzuholen. Die Beamtin hat uns die Einbürgerungsurkunden überreicht und bat uns noch eine Weile zu warten. Sie ging nebenan ins Zimmer und kam mit einem schönen Blumenstrauß für meine Ehefrau zurück. Wir waren entzückt und freuten uns sehr, bedankten uns und wollten gehen, da verschwand die Beamtin wieder. Sie brachte noch einen Blumenstrauß - für mich!
Die jüdische Gemeinde in Frankfurt (Oder) entstand bereits im 13. Jahrhundert. Sie hatte eine lange Geschichte bis 1943, als Frankfurt "judenfrei" geworden ist. Erst ca. 55 Jahre später haben sich erneut neujüdische Familien in Frankfurt niedergelassen und wieder eine jüdische Gemeinde gegründet. Ich war der erste Vorstand und arbeitete in dieser Eigenschaft bis zu meinem Ruhestand im 73. Lebensjahr in der jüdischen Gemeinde.

Ich gehörte auch zum Vorstand des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden im Land Brandenburg und war Mitglied im Direktorium des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Ich glaube an Gott. Ich bin im atheistischen Geiste erzogen, hatte aber mit etwa 40 Jahren zum ersten Mal den Gedanken, dass es einen Gott geben muss. Ich bin Hauptfachmann in unserem Institut geworden und hatte somit Einblick in die Dokumentation, die zusammengestellt werden musste, damit zum Beispiel eine kleine Fabrik entstehen kann. Die Dimensionen eines solchen Projektes, die Vielfalt der Aspekte, die unglaubliche Menge an Details und andererseits die Tatsache, dass das Ganze doch funktioniert, war meines Erachtens nur dadurch zu erklären, dass es eine übergreifende Idee geben muss, die einer höheren Ordnung entstammt. Dasselbe Gefühl oder denselben Eindruck habe ich, wenn ich die Vielfalt des biologischen Lebens und die Entwicklungsrichtung der Evolution sehe. Es muss eine göttliche Ordnung, eine vorkonzipierte Harmonie geben. Natürlich stelle ich mir Gott nicht als einen alten, bärtigen Mann vor. Im Judentum ist es ja sogar verboten, sich ein Bild von Gott zu machen und Gott auf irgendeine Art und Weise bildhaft darzustellen.